Einleitung

Aus der gewaltigen Typen- und Variantenmenge aller in estnischer Sprache aufgezeichneten Volkserzählungen eine erschöpfende Auswahl in einem Band zu bieten ist hoffnungslos. Wir müssen uns also auf das Wesentliche und Eigenartige in Inhalt und Form beschränken. Die älteste Schicht des estnischen Erzählgutes scheint in sehr frühe Zeiten, vielleicht sogar schon in das Mesolithikum zurückzureichen. In dieser Schicht kann man die Grenze zwischen Mythos und Märchen noch nicht scharf ziehen. Es lassen sich aber heute noch im Märchengut manche alten Mythenmotive nachweisen (siehe Nr. 90, 100, 101, 117 u. a., vgl. Nr. 91, 115, 195). Die kosmogonischen u. a. ätiologischen Mythen der estnischen Volksüberlieferung möchte ich hier nicht gründlicher behandeln, sie haben aber oft ihre Entsprechungen im Fernen Osten (siehe O. Loorits "Grundzüge des estnischen Volksglaubens" III § 253). Altertümlich und dennoch sehr beliebt sind weiter einige Motive der übernatürlichen Geburt (siehe Nr. 114, 123, 124, vgl. Nr. 75, 83, 98, 132, 152) und der Seelenverwandlung in Tiere, Vögel, Bäume und Pflanzen (siehe Nr. 89, 90, 92, 137, 150, vgl. Nr. 99, 135, 136). Die Idee der Metamorphose ist im estnischen Volksglauben fremd und gehört daher einer aus jüngeren Perioden entlehnten Märchenwelt an (siehe Nr. 79, 88, 91, 94-97, 105, 134, 149, 164). Dagegen wirken manche Züge in den Toten- und Jenseitsmärchen recht urzeitlich (siehe Nr. 89-93, 115, 116, 137, vgl. Nr. 75, 85-87, 102, 109), obwohl der böse wie auch der helfende Tote ziemlich allgemein durch den Teufel ersetzt worden sind. Glücklicherweise besitzen die Esten ein ausgezeichnetes Kriterium für die Datierung einzelner Motive, geboten durch das Umdichten der Mythen und Märchen in alte Volkslieder. Während des ersten vorchristlichen Jahrtausends ist man vom rodenden Ackerbau im Halbnomadismus endgültig zum sesshaften Bauerntum übergegangen. Am Ende dieser Periode beginnt die erste Blüte der Volksdichtung; aus dieser Epoche sind viele ältere Mythen- und Märchenmotive in Versform durch zwei Jahrtausende bis heutige Zeiten überliefert worden (siehe GEV III § 259 IVb). Etwa ein Jahrtausend später brachte die Wikingerzeit die zweite Blüte der estnischen Volks­dichtung mit sich, das aber schon mit dem typischen Unterschied, dass nun anstatt der kosmogonischen u. a. Mythen die Balladen und die sog. Wiederholungslieder dominierten. Durch die Versform sind alte Motive aus beiden Schichten inhaltlich fast unverändert bis unsere Zeiten erhalten. Merkwürdig ist es, dass dabei vor allem die ältesten Kettenlieder das altorientalische Weltbild bzw. die Himmelskunde widerspiegeln, wie auch das sog. Schöpfungslied. Die übernatürliche Geburt im sog. Salme-Lied ähnelt den chinesischen Glaubensvorstellungen. Neben gewissen schamanistischen Zügen hat man weiter Motive vom Welt- und Lebensbaum, vom Weltberg und -meer, von der Lebensquelle usw. in Versen verewigt, was uns vermuten lässt, dass die entsprechenden Motive in Estland schon spätestens um Christi Geburt müssen bekannt gewesen sein. Sogar die Balladen der Wikingerzeit weisen auf die Seelenwanderungsidee hin: so wird z. B. die Gattenmörderin zu einem Baum, das Blut der Jungfrau zu dem Trauerblatt, durch die Verheiratung ins Jenseits entstehen das Liebesblatt, das Kieskorn, Sterne usw. (GEV I § 85 und 61, III § 259); auch die Märchen Aarne 780 und 572° (vgl. Nr. 150 und 121-122) kommen in Versform vor.

Die gleichen Motive finden wir ferner in der Prosaüberlieferung. Form und Funktion der Märchen fordern aber von den Erzählern Anpassung und Umdeutung der unklar gewordenen Motive, Akklimatisierung und Modernisierung der Art und Weise ihrer Behandlung. So kann das lebendige, d. h. das im Volksmund überlieferte Märchen zwar alte Züge enthalten, nicht aber in seiner Gesamtstruktur als uralt betrachtet werden. Als glänzendes Beispiel möge der Text Nr. 78 hervorgehoben werden, worin die Spezialisten sogar eine Reminiszenz an die uralte Plattformbestattung entdecken können (vgl. Nr. 91, vgl. die nordeurasischen Totenhüttchen auf einem "Fuss" bzw. Baumstamm, wiederum auch in den estnischen Volksliedern belegt),1 wo aber das ebenso alte Motiv von der Rettung aus dem Jenseits durch Kartenspiel völlig modern dargestellt wird (vgl. AaTh 307). Und wenn in dem Märchen von dem Schwiegersohn der Sonne schon ganz allgemein die orthodoxen Heiligen auftreten (siehe Nr. 100, 101), so erinnert man sich in einigen Varianten statt deren noch an den ursprünglichen Morgen- bzw. Abendstern, von der tschuwassischen Parallele des alten Waisenmärchens ganz zu schweigen.2 Die Details der Übergänge von den älteren Versionen zu den modernen muss die Forschung noch feststellen. Das Märchengut als solches ist ein Kulturprodukt, an dem jede Generation aktiv teilgenommen hat, so dass es nicht atavistisch, sondern im Gegenteil ganz neuzeitlich wirkt. Dadurch erklärt es sich, das das heutige estnische Märchenrepertoire trotz alter orientalischer Elemente infolge jüngerer Kulturkontakte im grossen und ganzen dennoch dem mitteleuropäisch-deutschen Märchenschatz am nächsten steht, obwohl es viele ostbaltische Sonderzüge enthält (vgl. Loorits, Medne, Smits und Balys) und dem lettischen Märchenrepertoire bezeichnenderweise etwas näher kommt als dem mehr skandinavisch orientierten finnischen (vgl. Aarne in FFC 5 und 33). Jedoch verdienen manche Übereinstimmungen sogar mit dem lappischen Repertoire Beachtung (siehe Nr. 16, 23, 45, vgl. die skandinavischen Parallelen bei Nr. 18, 19 und 157), von den Sonderfällen und Kuriositäten gar nicht zu reden (z. B. Nr. 4). Neben den mitteleuropäischen Parallelen findet man ebenso Parallelen mit den osteuropäischen Texten (wie z. B. Nr. 7, 8, 26, 39, 74, 75, 77, 79, 80, 82, 102, 133, 134, 153, 193, 210); bei manchen Typen kann man nur osteuropäische Vorbilder feststellen (Nr. 10, 20, 29, 53, 66, 68, 83, 126, 127, 137, 138, 151, 156, 160, 170, 172, z. T. auch Nr. 89, 121, 122, 142).

Die populärsten Märchentypen bei den Esten sind AaTh 480 und 650, beide in mehreren Fassungen vorhanden; sehr beliebt sind auch AaTh 300, 301, 327, 330, 409, 720, 1135 und 1150; weiter folgen AaTh 122, 307, 313, 314, 325, 530, 554, 672, 675, 752, 810, 821, 920/1 u. a. Die Beispieltexte im vorliegenden Buch sind nicht immer in der populärsten Version wiedergegeben, sondern man hat oft weniger bekannte Sonderprägungen bevorzugt (wie z. B. Nr. 9, 28, 33, 74, 77, 80-82, 111, 125, 161). Viele Typen sind bei den Esten wie auch sonstwo in verschiedenen selbständigen Versionen vertreten (z. B. AaTh 440, vgl. Nr. 96 und 97) und bieten ein besonderes Interesse für die Ökotypen-Forschung. Lebhafte Fabulierlust hat oft zu zufälligen oder gar bleibenden Kontaminationen geführt. Im Vergleich z. B. zu den sibirischen Völkern ist jedoch das Talent der Komponierung der estnischen Märchenerzähler gering; grosszügige Zyklen wie etwa eine Fuchs- oder Christus-Reihe von Motiven fehlen. Als eines der wenigen Beispiele dafür kann man jedoch den ziemlich schwach entwickelten Zyklus vom dummen Teufel nennen, sein Gegner hat in der Volksüberlieferung keine zentrale Rolle errungen und wird auch terminologisch verschiedenartig genannt. Das allmähliche Zurückweichen der Erzählkunst hat zu der Entstehung von verschwommenen Konglomeraten beigetragen, die kaum je selbständige Typen gewesen sind (z. B. Nr. 95, 103, als einziges Memorat Nr. 187). Als Beispiele dafür, wie eben volkstümliche Motive entstehen und sich verbreiten können, mögen Nr. 180, 181, 198, 200 usw. dienen.

Die Grenze zwischen Märchen und Sage bleibt immer schwankend: die legendenartige Erzählung vom Sündenregister auf der Kuhhaut (Andrejev *826, Wildhaber in FFC 163) wird bei den Esten gewöhnlich mit der Sage von der Mahrtenfrau kontaminiert (Aarne, Sage 59, siehe Nr. 161) und tritt seltener als Märchenmotiv auf (vgl. Nr. 159 und 206).

Ebenso wird die osteuropäische Fassung von der Frau Holle (Andrejev 480 D*) bei den Esten eher für eine Sage gehalten, in der das Waisenkind in der Sauna von einem heiratslustigen Toten bzw. Teufel bis zum Hahnenschrei ein Kleidungsstück nach dem anderen fordert (Aarne, Sage 31). Des Flachses Märter wird gewöhnlich als eine jüngere Ergänzung zu AaTh 480 angefügt (vgl. Balys 365 A°), die hier gebotene Version aber nähert sich der Sagenwelt (siehe Nr. 110). Auch die Schlangenkronenmotive (siehe Nr. 129-131) wird häufiger sagen- als märchenhaft behandelt, ebenso wie der Zweikampf der Schlangenkönige (Nr. 140) und der Tanz der irdischen Mädchen mit den Jenseitsburschen (Balys 365 B*, vgl. SEV I § 37 und III § 227f.); vgl. die Funktion der Krähen Nr. 40 und 152. Sagenähnlich wiedergegeben sind weiter Nr. 80, 86, 87, 104-108, 111, 139, 161, 164, 178-182, 197-200, 204 usw. Völlig unmöglich ist es, die sog. Ursprungssagen von Märchen und besonders von Tier- oder Legendenmärchen zu trennen (siehe Nr. l, 9, 16, 21, 29, 30, 35, 38, 44, 45, 67, 89, 99, 117, 135, 145, 150, 215). Der Unterschied hängt oft nur davon ab, in welchem Stil die Geschichte vorgetragen wird (vgl. Nr. 22 und 23, 147 und 148). Aus Raummangel habe ich nur einige Ursprungssagen angeführt, die ihrem Erzählstil nach schon etwas den Märchen ähneln (siehe Nr. 31, 47, 51, 52, 57-63, 71, 125, 136, 149, 108, 162, 209). Einen Übergang zum Schwank mögen Nr. 187, 193, 215 u. a. veranschaulichen.

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich das Märchen in Estland noch lebendig erhalten und ist den Kindern zu Hause erzählt worden, besonders von Grosseltern und verschiedenen Tanten und Besuchern. Bezeichnend ist das Eingangsmotiv in mehreren Typen (z. B. AaTh 840): will jemand über Nacht bleiben, so fragt man ihn, ob er Geschichten zu erzählen wisse (vgl. Nr. 133 und 134). Auch alte Soldaten, die noch im 19. Jahrhundert nach dem 25jährigen Militärdienst aus den weiten Gegenden Russlands nach Hause zurückkehrten, waren oft regelrechte Meister der Erzählkunst (vgl. Nr. 82, 181, 203, 210). Die winterlichen Zusammenkünfte, wie etwa das gemeinsame Spinnen der Mädchen und Frauen an langen dunklen Abenden, haben ebenso wie die sommerliche Nachtweide für die Märchen eine ständige Funktion der Unterhaltung bewahrt. Natürlich wurde auch im Dorfkrug die fabulierende Phantasie beflügelt. Dabei muss betont werden, dass sich die pädagogische Funktion der Märchen nicht nur auf die Kinder beschränkte, sondern auch bei den Erwachsenen die ethischen Ziele einer sozialen Gerechtigkeit erstrebt hat. Äusserst interessant sind in dieser Hinsicht die didaktischen Parabeln, die dem sog. legendenartigen Märchen nahe stehen und in Estland noch unlängst beliebt waren. Bemerkenswert ist auch das allgemeine Verhalten zu dem Teufel, der trotz des christlichen Dualismus nicht zu einem Symbol des absolut Negativen herabsank, sondern bedeutend positiver dargestellt wurde.

Terminologisch ist es vielsagend, dass der "alte Mann" der Märchen in der Regel nicht als "Greis" bezeichnet wird, auch der "graue" alte Mann (siehe Nr. 60, 109, 133, 162) kommt seltener vor. Der Unterschied des Ich- und Vater-Archetyps gegenüber dem Toten und dem Teufel lässt sich gut verfolgen, indem der Himmelsvater bzw. Gott ganz zurücktritt (siehe Nr. 133, 182). Die alten Totenbezeichnungen sind in den Volksliedern allgemein und zahlreich erhalten, in den Märchen aber fast vollständig dem "Heimgänger" und dem "Teufel" gewichen; sogar der "Tote" kommt nur lokal und in Dialektausdrücken vor.

Der Teufel dagegen wird weniger als Höllenfürst denn als "der alte Heide" aufgefasst, der sich zuweilen als "fremder Mann" (vgl. Nr. 79, 156) wiederumdem Archetyp des alten Mannes nähert, bzw. als alter ego gedeutet werden kann. Der estnischen Volksseele entsprechend werden die groben Grausamkeiten in den internationalen Motiven gemildert und die Extreme weicher koloriert, die epische Dynamik mit lyrischen Stimmungen erträglicher gefärbt und womöglich ein versöhnendes happy end angestrebt (vgl. dagegen Nr. 87 und 88 mit einem elegisch abgeschliffenen Schluss, während in Nr. 152 die russischen Auffassungen schon klar mittönen). Humoristische Neigungen tretenin den Tiermärchen recht stark hervor.

Im Erzählstil spürt man gewisse Unterschiede je nach der Aufgabe, die der Erzähler oder die Erzählerin sich stellen. Für Kinder erzählt man in einfacherem, aber immerhin malerischem Stil mit langen Wiederholungen und lebhaften Dialogen, begleitet von Mimik und Bewegungen. Oft werden Themen humoristisch, oft aber auch nur pädagogisch vorgetragen. Im letzten Fall nähert man sich manchmal sogar stilistisch einem höheren und feierlichen Ton, etwa im testamentarischen Sinn, besonders wenn man es mit Kleinkindern zu tun hat (vgl. Nr. 1). Für Erwachsene erzählt man kürzer und schneller, bei manchen Übergängen oder auch gerade im Brennpunkt der Spannung sogar lakonisch, in syntaktisch abgebrochenen Sätzen, da ja die Zuhörer ihre ganze Aufmerksamkeit nur auf den Inhalt konzentrieren. Die Meistererzähler flechten oft auch Tagesereignisse oder die anwesenden Menschen auf eine oder andere Weise in die fliessende Erzählung ein (besonders in Vergleichen oder komischen Andeutungen), um die Zuhörer damit zu überraschen oder einfach zu necken. Das familiäre Anstandsgefühl der patriarchalischen Umwelt ermöglicht es, dass viele Ausdrücke, die die moderne Schrift lieber vermeidet, im Märchenstil als Alltagswörter gelten und von uns als solche auch beibehalten werden müssen. Auch hinsichtlich der Thematik sind gewisse obszöne Tendenzen nicht zu verschweigen, obwohl sie im Vergleich zu den Schwänken ganz im Hintergrund stehen (siehe Nr. 8). Schon aus der Kindheit gut bekannte Motive hat man zuweilen zum Spass absichtlich so umgestaltet, dass einem unschuldigen Anfang ein pikanter Schluss folgt (vgl. Nr. 7).

Da die Esten während der Unterjochungsperiode der letzten Jahrhunderte in ihren Gemeinden und Kirchspielen isoliert leben mussten, erklärt es sich, dass sich eine allgemeine Vortragsweise und etwa eine Märchensprache nicht herauskristallisiert haben, sondern viele lokale Züge recht fühlbar sind. Als Beispiele der nordestnischen Erzählkunst dienen Nr. 10, 12, 13, 43, 67, 75, 78, 80, 86, 89, 103, 122, 123, 131, 136, 138, 142, 159, 163, 176, 180, 188, 190, 192, 194, 195, 205 und 211, von den Inseln stammen Nr. 18, 56, 132, 158, 167 und 189, für das übrige Westestland sind typisch Nr. 2, 15, 23, 24, 28, 32, 35, 37, 44, 85, 87, 168 und 215, und für das südwestliche sog. Mulgimaa Nr. 5, 16, 26, 49, 53, 109, 113, 124, 135, 156, 157, 171, 187 und 199, während die Eigenart der südestnischen Erzählkunst in Tartu-Võrumaa (sog. Oandi-Gebiet) durch die Nr. 9, 33, 34, 41, 84, 108, 120, 141, 169 und 214 vertreten ist. Eine besondere Gegend an sich bildet das südöstliche Estland, vor allem der orthodoxe Kreis Setumaa, der nie unter der deutschen, sondern nur unter der russischen Herrschaft gestanden hat und deshalb deutlich stärker zu dem osteuropäischen Märchenrepertoire neigt. Für die orthodoxen Legenden zum Beispiel ist Setu geradezu eine der besten Fundgruben. Ausserdem zeigen die Setukesen eine ausserordentliche Imaginationskraft, Fabulierlust und kompositionelle Gewandtheit, weshalb auch die riesenlangen Märchen gerade dort bis heute am besten überliefert sind. Der Erzählstil erreicht bei den Setukesen seinen Höhepunkt in hübschen stereotypen Phrasen, liebkosenden Deminutiven (man stelle sich vor, sogar "er", "sie", "jener" und andere Pronomina werden im Deminutiv verwendet), in stabilen oder gar improvisierten Kurzversen, ausgemalten Wiederholungen usw., wobei erstaunlich viele und bunte Bindewörter recht unterschiedlich benutzt werden. Im vorliegenden Buch sind nur einige kürzere Proben der setukesischen Erzählkunst abgedruckt worden (siehe Nr. l, 3, 7, 8, 14, 66, 72, 77, 79, 82, 90-92, 100-102, 115-117, 121, 126, 127, 133, 134, 137, 143, 147, 150-152, 160, 170, 172, 175, 177 und 216).

Die meisten estnischen Volkserzählungen, die überhaupt in die Archive gelangt sind, sind während zwei Perioden von Hunderten Enthusiasten auf dem ganzen Lande aufgezeichnet worden: 1) etwa 1888-1906 wurde die Sammelarbeit von J. Hurt organisiert (Ziffer der Sammlung: H, insgesamt 114 695 handschriftliche Seiten), M. J. Eisen (= E, 90 100 Seiten) u. a.; 2) durch die Stipendiaten, Ortskorrespondenten usw. sammelte das Estnische Archiv für Volkskunde (= ERA) unter meiner Leitung 1928-1940 noch 252 180 Seiten, bei den Setukesen wurde die Sammelarbeit von S. Sommer durchgeführt (= S, 124 648 Sei­ten). Alles zusammen besass das Estnische Archiv für Volkskunde vor dem letzten Krieg 711573 Seiten Handschriften. Während der ersten Periode war das Märchen im Volksmund noch ziemlich lebendig, wurde aber von den meisten Sammlern nicht genau nach der volkstümlichen Vortragsweise aufgezeichnet, sondern halbliterarisch, und nicht selten auch damaliger romantischer Weise entsprechend weitergegeben (Beispiele siehe Nr. 95, 104-106). Inhaltlich sind diese Texte also zwar zum grössten Teil zuverlässig, die sprachliche Darstellung aber ist meistens individuell stilisiert worden und manchmal unvolkstümlich, oft sogar unklar. In der zweiten Periode legte man das Hauptgewicht auf die wortgetreue Wiedergabe der erzählten Texte; leider gab es da aber schon bedeutend weniger gute Erzähler; das echte Volksmärchen hatte inzwischen dem Buche weichen müssen.

Alle vorgebrachten Umstände habe ich bei der Auswahl im Auge behalten, um ein möglichst vielseitiges Gesamtbild bieten zu können. Dazu möchte ich noch den Eigenwert der Varianten um so stärker unterstreichen, da die bisherigen Märchenmonographien die inhaltlich, kompositionell und stilistisch repräsentativen Textproben gewöhnlich nicht anführen (vgl. die gleichen Motive in ganz verschiedenen Kombinationen Nr. 5 und 86, 77 und 154, 106 und 107, 79 und 103, 155 und 206, 159 und 206, vgl. auch Nr. 12 und 13, 100 und 101, 121 und 122, 147 und 148, 159 und 160, oder 198 und 199 im Vergleich zu Nr. 152 usw.). Zweitens wollte ich auch den volks- und sprachpsychologischen Wert der Volkserzählung soviel wie möglich beibehalten und habe deshalb absichtlich einige Idiome in den Klammern buchstäblich übersetzt, um damit die Aufmerksamkeit auf die eigenartige Ausdrucksweise des estnischen sowie jedes Volkes zu lenken. Ausserdem unterscheiden sich ja die Umgangssprache und die mündliche Vortragsweise so gründlich von den Stilforderungen eines literarischen Textes, dass man sie nicht mit dem Massstab eines korrekten Schulaufsatzes messen darf: das ästhetische Empfinden des Erzählers ist betreffs der Wortwahl und Wortfolge viel freier, vermeidet nicht die anscheinend banalen Wiederholungen der Alltagswörter, verwendet viele Konjugationen an Stelle der komplizierten Syntax, bevorzugt gewisse stereotype Ausdrucksmittel und schämt sich nicht vor allerlei Unkonsequenzen wie z. B. plötzlichen Übergängen von einem Tempus zum anderen, der ständigen Mischung der direkten und indirekten Rede usw. So stösst man vor allem bei der Übersetzung auf Schwierigkeiten einer genauen Wiedergabe, die ich jedoch zu geben bemüht war.

Oskar Loorits, Uppsala


[1]
Über das Märchenhaus auf einem Vogelfuss bei den finnisch-ugrischen und turko-tatarischen Stämmen siehe A. Solymossy in: Ethnographia 40 (1929), 133-152.
[2]
E. Karahka und M. Räsänen, Gebräuche und Volksdichtung der Tschuwassen(Memoires de la Societe Finno-Ougrienne 94, 1949), 196-205 (20). Die gleiche Mythe hat Medne unter Nr. *297 auch bei den Letten registriert: "The farm-hand one year earns a foal and some oats the next. He puts the foal to gross, and sows the oats on the stove bench in the sweating bath. Zelona allows the wolf to eat the foal and the oats are frozen. Soon the sun sets, the farm-hand beats Zelona and the frost, andbreaks the sun's chair. The offended parties complain to God, and he acquits the farm-hand." Der unklare Ausdruck Zelona ist als Morgenstern (bzw. Venus) zu interpretieren.