95. Des Königs Tochter und Nõglas (=der Nadlige, bzw. Nadeljunge, als Bezeichnung eines Tauchers)

In alter Zeit habe ein berühmter König gelebt. Er hat sehr viel Geld und Gut und auch ein sehr großes Heer gehabt. Aber noch viel mehr wert als seine Habe und sein Reichtum und sein Kriegsheer sei ihm seine schöne Tochter gewesen. Der König habe auch einen Diener gehabt, der oft unter Wasser getaucht sei und die Dinge herausgeholt habe, die dort hineingefallen oder hineingeworfen worden waren. Sein Name sei Nõglas gewesen. Auf diesen Nõglas sei der König sehr stolz gewesen, daß er solch einen Diener besitze, wie ihn keiner der Könige gehabt habe. Des Königs schöne Tochter und Nõglas aber hatten insgeheim einander zu lieben begonnen.

Zur Königstochter sind aber auch Freier gekommen, und das sind alles Königssöhne aus fernen Ländern gewesen. Die Königstochter habe aber keinen von ihnen empfangen; sie liebte ihren Nõglas und keinen sonst. Einmal sei wieder der Sohn eines berühmten Königs zu ihr auf die Freite gekommen. Der König habe ein goldenes Schiff anfertigen lassen, damit seine Tochter, Nõglas und der fremde Königssohn auf dem Meer eine Lustfahrt machen könnten. Der König habe dem Sohn des fremden Königs versprochen, ihm auf dem Meer die Geschicklichkeit seines Nõglas zu zeigen.

Dieser fremde Königssohn habe zu Hause einen weltberühmten Zauberer gehabt, der alle Dinge vorher und nachher erkannt und gewußt habe. Diesen habe er vor dem Freiersgang um Rat gefragt. Der Zauberer habe ihm gesagt, daß die Königstochter den Nõglas liebe und keinen anderen haben wolle. Dann hat er den Königssohn noch belehrt: wenn der König die Geschicklichkeit seines Nõglas zeigen will, dann laß ihn die goldene Brustspange der Königstochter ins Meer werfen; dann kannst du ohne Sorge sein, Nõglas wird nicht mehr zum Vorschein kommen. Auf dem Meer habe der König etwas kleines ins Meer werfen wollen, aber der Königssohn habe gesagt: "Nein, König, du mußt auf meinen Wunsch die goldene Brustspange deiner Tochter ins Meer werfen. Dann wirst du schon sehen, daß Nõglas nicht mehr zurückkehrt." Der König, der bis zu dieser Zeit seines Nõglas sicher war, weil der schon viele, viele Male im Meer gewesen war, um Sachen herauszuholen, hat auch dann nichts weiter gedacht, als daß Nõglas auch diese Brustspange herausholen wird. Dann hat er seiner Tochter die Spange genommen und ins Meer geworfen. Nõglas sei sehr traurig gewesen und habe mit weinendem Gesicht auf des Königs Tochter geblickt. Die sei auch traurig gewesen, und die Tränen seien ihr über die schönen Wangen hinunter gelaufen. Nõglas habe noch die Königstochter angeblickt und sei dann ins Meer gesprungen.

Das Schiff habe gestanden und auf die Rückkehr des Nõglas gewartet. Eine Stunde war vergangen, eine zweite und eine dritte, aber Nõglas kommt nicht, und er kommt nicht mehr zurück. Der fremde Königssohn war froh, daß er jetzt die Königstochter für sich bekommt. Des Königs Tochter aber habe zu weinen begonnen. Der König, als er gesehen habe, daß Nõglas nicht mehr zurückkommt, habe das Schiff zurück nach Hause fahren lassen und sei selbst wegen Nõglas voll Sorgen und traurig gewesen.

Als das Schiff an den Strand gelangt war, sahen sie, daß eine Ente, einen goldenen Ring am Hals tragend, hinter dem Schiff hergeschwommen sei. Zu Haus habe der Königssohn die Königstochter für sich zum Weib begehrt, aber die habe nichts mit ihm zu tun haben wollen. Die Königstochter habe dann selbst die Geschichte ihrer Liebe zu Nõglas dem Vater verraten. Der Vater habe auch nichts dagegen gehabt. Aber Nõglas war ja im Meer geblieben, und deshalb war alles zu spät.

Des Königs Tochter hat die ganze Nacht nicht schlafen können. Frühmorgens sei sie weinend ans Meer gegangen, ob sie doch etwas von ihrem geliebten Nõglas sehe und höre. Am Meeresstrand habe sie auf einem Stein gesessen und geweint. Da habe sie das Geschnatter einer Ente gehört. Sie habe aufgeschaut und habe auf dem Meer eine Ente gesehen, die einen goldenen Reif um den Hals gehabt habe. Die Ente sei ganz zu ihr herangeschwommen und habe sie gar nicht gefürchtet. Den Strand entlang sei ein alter Mann, einen Sack auf dem Rücken tragend auf die Königstochter zugekommen. Der alte Mann habe sie gegrüßt und habe ihr dann aus seinem (Hals-)Sack eine Handvoll Mehl gegeben und ihr befohlen, die Ente mit dem Goldreif damit zu füttern. Darauf sei der alte Mann, wie unter die Erde versunken, verschwunden.

Als die Königstochter das Mehl, das der alte Mann ihr aus dem Sack gegeben hatte, der Ente verfüttert habe, sei plötzlich eine wunderbare Geschichte geschehen: aus der Ente sei sein schöner Nõglas geworden und aus dem Reif, den sie am Halse getragen hatte, die schöne goldene Halsspange der Königstochter, die der König ins Meer geworfen hatte, um dem fremden Königssohn die Geschicklichkeit des Nõglas zu zeigen. Nõglas habe dann der Königstochter berichtet: die Nixen haben erfahren, daß er die Königstochter liebt, und haben ihn in ihre Netze locken wollen. Aber weil er immer seiner irdischen Liebe treu geblieben war, haben sie ihn in eine Ente verwandelt, und die Spange der Königstochter als Ring um seinen Hals gesetzt. Wenn der König etwas anderes ins Meer geworfen hätte, so hätten die Nixen davon (d. h. von dieser Liebe) nicht erfahren. Des Königs Tochter habe den Nõglas mehrfach geküßt und sei sehr froh gewesen, daß sie ihren teuren und lieben Bräutigam wiederbekommen hatte.

Dann seien sie Hand in Hand nach Haus zum König gegangen. Der König sei sehr froh gewesen, daß der teure Nõglas sich sein Leben gerettet hatte. Nõglas habe ihm dann die ganze Geschichte, die ihm auf dem Meeresgrund geschehen war, erzählt. Sieben Wochen ist dann Hochzeit gehalten worden. Schließlich ist Nõglas König geworden. Der fremde Königssohn aber ist geschämt nach Hause gegangen.