92. Die Schlangenbraut

Es hatten einmal ein Vater und eine Mutter drei Töchter. Die Mutter wollte ihre schönen Töchter recht bald verheiraten und ging zu dem Weisen, um zu fragen, wann und wie ihre Töchter heiraten werden. Der Weise sagte: "Deine älteren Töchter werden später heiraten, aber die jüngste wird sehr bald eine Schlange heiraten." Die Mutter wurde so böse auf den Weisen, daß sie ihm nicht einmal ein "Ferkellicht" (d.h. eine silberne Münze) für das Weissagen gab; außerdem war sie auf sich selbst böse, weil sie zu solch einem "Zauberer" gegangen war.

Eines Tages, als die Töchter zu dritt zum See baden gingen, hatte sich eine Schlange auf die Kleider des jüngsten Mädchens geringelt, die sagte zu dem Mädchen: "Ich werde nicht eher von deinen Kleidern weggehen, bis du mir versprichst, meine Frau zu werden." Was sollte das arme Mädchen tun? Es mußte das versprechen - wohin konnte sie nackt gehen? Die anderen Schwestern zogen sich an und gingen nach Haus, wie lange sollte sie denn im Wasser warten? In ihrer Not versprach sie, die Schlange zu heiraten, und diese schlängelte sich wieder von ihren Kleidern herab. Am dritten Tag, als alle anderen aus dem Haus gegangen waren und das jüngste Mädchen allein zu Hause bleiben mußte, kam auch die Schlange zu seiner Braut, nahm sie zur Hand und das Mädchen mußte mit ihr weggehen.

Nachdem es ein Jahr bei der Schlange gelebt hatte, hatte es mit ihr eine hübsche Tochter, noch viel schöner als die Mutter. Die Schlange hatte unter der Erde auch ein eigenes schönes Haus zum Wohnen, und dort wurde aus ihr ein schöner Mann, wenn er die Schlangenhaut ablegte. Das Mädchen lebte da auch ein zweites Jahr und hatte eine zweite Tochter, die auch sehr schön war. Sie lebte dort auch ein drittes und ein viertes Jahr und hatte eine dritte Tochter. Alle waren ungewöhnlich schön, wie die Äpfel mit roten Backen, in jeder Hinsicht klug und verständig.

Einmal sprachen die Mädchen mit der Mutter und fragten sie: "Mütterchen, alle gehen zu Großvater und Großmutter zu Besuch, wir gehen niemals, haben wir denn keinen Großvater und keine Großmutter, die wir besuchen könnten?" Die Mutter erwiderte: "Töchterchen, ihr habt beide, Großvater und Großmutter, aber ihr könnt nicht zu ihnen zu Besuch gehen, ich selbst kann auch niemals mehr dahin zurückgehen, von wo ich hierher gebracht wurde!"

Wie sie so sprach, kamen der Mutter Tränen in die Augen, und die Kinder fingen auch an zu weinen, obwohl sie nicht wußten, weshalb. Manch anderes Mal wurden solche Gespräche zwischen der Mutter und den Töchtern geführt, wobei die Mutter den Kindern des längeren erzählte, wie es auch über der Erde ein schönes Land gibt, wo ihr Großvater und ihre Großmutter leben. Von dem Tag an begannen die Töchter ununterbrochen auf die Mutter einzudringen: "Bitte doch, Mütterchen, den Vater um Erlaubnis, über die Erde, zum Großvater und zur Großmutter zu Besuch zu gehen!" Als die Schlange nach Haus kam, legte die Frau ihr die Bitte der Kinder vor und bat auch von sich aus: "Erlaube mir, lieber Mann, auch einmal nach Hause zu Besuch zu gehen! Es sind schon neun Jahre her, wo man mich von Zuhause wegholte, ich hab ja auch eine große Sehnsucht, da ich meine Eltern schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen habe." Die Schlange erlaubte es. Sogleich machte man sich fertig, und die Schlange begleitete sie über das Meer: sie nahm alle vier auf ihren Rücken und bewegte sich ("ruderte"), wie es sich für eine Schlange gehört, mit Frau und Töchtern über das Meer. Als sie sie dort ans Land gebracht hatte, sagte sie zu seiner Frau: "Wenn du vom Besuch zurückkommst und ans Meer gelangst, dann singe:

"Windende Schlange, zischende Schlange,

Setz die Segel, laß das Schiff,

Über das Meer fahren,

Die Liebchen nach Hause bringen!

Dann komme ich hierher und bringe euch so nach Haus, wie ich euch hierher gebracht habe."

Auf dem Weg zu Großvater und Großmutter ermahnte die Mutter die Töchter, auf die Fragen des Großvaters und der Großmutter nichts, weder über ihr Leben noch über ihren Vater zu sagen: "Sollten sie oder sonst irgendjemand fragen, dann sagt: Wir leben genau so und haben einen solchen Vater wie alle anderen hier."

Der Vater und die Mutter waren sehr erfreut, als sie ihre Tochter nach mehr als neun Jahren munter und gesund nach Hause kommen sahen. Sie hatten sie schon lange für tot gehalten. Auf die Frage des Vaters und der Mutter, wo und wie sie gelebt habe, erwiderte die Tochter kurz: "Ich lebe auch mit einem Mann, aber in den Ort, wo ich gelebt habe, konnt ihr nicht kommen." Großvater nahm die älteste Enkelin auf den Schoß, ging hinaus, schmeichelte und fragte: "Töchterchen, sag mir, wie euer Leben und auch euer Vater ist!" Das Mädchen erwiderte: "Großväterchen, wir leben genau so und haben einen solchen Vater wie alle anderen hier." Der Großvater nahm die mittlere Enkelin auf den Schoß, schmeichelte und fragte: "Töchterchen, sag mir, wie euer Leben und auch euer Vater ist!" Das Kind erwiderte: "Großväterchen, wir leben genau so und haben einen solchen Vater wie alle anderen hier."

Der Großvater nahm die jüngste und dümmste Enkelin auf den Schoß, brachte sie hinaus, schmeichelte und fragte: "Töchterchen, sag mir, wie euer Leben und auch euer Vater ist!" Da legte das Mägdelein ihr Ärmchen fest um den Hals des Großvaters und begann zu erzählen: "Großväterchen, in unserem Haus ist es schön zu leben; zu essen und zu trinken haben wir auch genug, aber unser Vater ist nicht gerade so wie bei anderen. Unser Vater ist eine große Schlange. Wenn er weggewesen ist und nach Hause kommt, dann windet er sich den Tisch entlang, daß das Geschirr und die Löffel klimpern. Unser Haus ist sehr weit unter der Erde. Als unser Vater uns ans Meer brachte, ließ er alle auf seinen Rücken steigen und brachte uns ein langes, langes Stück übers Meer hierher ans Land. Dort setzte er uns ab und lehrte die Mutter singen:

Windende Schlange, zischende Schlange,

Setz die Segel, laß das Schiff,

Über das Meer fahren,

Die Liebchen nach Hause bringen!

Auf dieses Lied versprach er, dahin ans Meer zu kommen und uns genau so auf dem Rücken nach Hause zu bringen."

Den Alten überkam heiße Wut, daß die Schlange sich seine Tochter durch Betrug zur Frau genommen hatte. Er lud sein Gewehr mit einer silbernen Ladung, ging am nächsten Tag ans Meer und sang:

Windende Schlange, zischende Schlange,

Setz die Segel, laß das Schiff,

Über das Meer fahren,

Die Liebchen nach Hause bringen!

Selbst zog er sich hinter einen Busch zurück, um zu warten. Es verging auch nicht viel Zeit, als eine große Schlange, den Kopf aufrecht über dem Wasser haltend, ans Ufer schwamm. Der Alte zielte mit dem Gewehr direkt auf den Kopf - klomm!, und von der großen Schlange blieb nichts weiter übrig als blauer Matsch, der durch die Meereswogen hin und her und auseinandergetrieben wurde.

Als die Tochter eine, zwei Wochen auf Besuch gewesen war, wollte sie mit ihren Töchtern nach Hause gehen. Als sie ans Meer kam, blieb sie stehen und sang:

Windende Schlange, zischende Schlange,

Setz die Segel, laß das Schiff,

Über das Meer fahren,

Die Liebchen nach Hause bringen!

Die Sängerin wartete, doch nichts war zu sehen oder zu hören. Sie sang zum zweiten Mal, auch nichts, alles blieb still. Sie sang zum dritten Mal, alles blieb wie zuvor. Da verstand die Mutter, daß etwas passiert war. Sie begann die Töchter zu fragen: "Vielleicht habt ihr irgendjemandem von unserem Vater erzählt?" Die Älteste entschuldigte sich: "Ich habe nichts gesagt. Der Großvater nahm mich auf den Schoß, führte mich hinaus und fragte wohl sehr." Die mittlere Tochter entschuldigte sich auf dieselbe Weise. Die jüngste sagte: "Der Großvater nahm auch mich auf den Schoß, brachte mich hinaus, schmeichelte und fragte alles, und ich erklärte ihm auch alles, wo wir leben, wie wir leben, und wer unser Vater ist."

Da begann die Frau sehr nach ihrem Mann zu weinen und sich zu trauern, bis sie selbst zu einer krausen Birke am Meer wurde. Die älteste Tochter nahm sie als schwarze Rinde um sich, die mittlere als äußere Schale auf die schwarze Rinde, die Jüngste Tochter als die Hauptschuldige als zitterndes Blättchen auf die weiße Schale. Und da sind sie noch heute.