88. Der Herrscher der Ratten

Es war einmal ein reicher Kaufmann, der hatte einen großen Laden und ein schönes Gut. Als er starb, hinterließ er drei Söhne. Die beiden älteren waren kluge Männer, der jüngste aber war ein wenig dumm. Nun wußte die Mutter nicht, welchem Sohn sie das Gut oder welchem sie den Laden geben sollte. Deshalb sagte sie zu den Söhnen: "Derjenige von euch, dessen Braut am schönsten ist, und der mir das schönste Kleid zum Geschenk bringt, bekommt das Gut, der andere bekommt den Laden, der dritte aber bekommt nichts."

Danach zogen die Söhne aus. Die älteren Brüder hatten beide ihre Bräute, zu denen sie gingen, aber der jüngste hatte keine, deshalb wußte er auch nicht, wohin er gehen sollte. Er wanderte die Landstraße entlang und kam schließlich in einen Wald. Da setzte er sich auf einen Stein, dachte nach und fing endlich an zu weinen.

Als er so weinte, kam ein alter Mann unter dem Stein hervor und fragte: "Was fehlt dir, lieber Junge?" Der Junge erzählte ihm alles, daß er ausgeschickt wurde, ein Geschenk von der Braut zu holen. Da sagte der alte Mann: "Weine nicht, wir werden schon mit allem fertig. Komm mit!" Mit diesen Worten ging er unter den Stein, und der Junge folgte ihm. Dort war ein schönes Haus mit prächtigen Zimmern, die alle von Gold und Silber glänzten, aber es gab keine anderen Tiere als Ratten zu sehen: das war nämlich das Rattengut. Man wies dem Jungen sein Bett an und gebot ihm, schlafen zu gehen. Der Junge ging auch. Nach einiger Zeit weckte man ihn wieder, gab ihm ein vornehm geschneidertes Kleid und schickte ihn fort, forderte ihn aber zugleich auf zurückzukommen, wenn er was brauche.

Frohen Herzens ging der Junge nach Haus, wo auch die anderen Brüder nach einiger Zeit mit ihren Geschenken ankamen. Aber sein Geschenk war das schönste und war außerdem als erstes fertig geworden. Die Mutter jedoch wollte ihm wiederum nicht das Gut geben und schickte deshalb die Söhne zum zweiten Mal aus und versprach demjenigen das Gut zu geben, der von seiner Braut die schönsten Schuhe hole. Wieder gingen die anderen Brüder zu ihren Bräuten, der Dumme jedoch zu seinem Stein. Auf sein Weinen hin kam der alte Mann wieder unterm Stein hervor, führte ihn darunter und legte ihn ins Bett schlafen. Nach einiger Zeit weckte man ihn wieder, gab ihm die Schuhe und schickte ihn weg.

Als er zu Haus ankam, waren seine Schuhe wieder die schönsten. Aber dessen ungeachtet gab ihm die Mutter immer noch nicht das Gut, sondern schickte sie ein drittes Mal auf die Probe aus. Es sollte derjenige das Gut bekommen, der ihr von seiner Braut das süßeste Weißbrot hole. Die anderen Brüder gingen wieder zu ihren Bräuten, der Dumme aber wieder zu seinem Stein. Beim Stein fing er wieder an zu weinen. Bald war der alte Mann wieder da und fragte nach dem Grund. Nachdem er die Geschichte gehört hatte, führte er den Jungen wieder hinunter und gebot ihm schlafen zu gehen.

Aber diesmal fand der Junge keinen Schlaf. Daher sah er, wie das Weißbrot gebacken wurde: eine ganze Schar Ratten war im Trog im Teig und knetete das Weißbrot. Als der Junge das sah, dachte er bei sich: "Dieses Weißbrot ißt doch wohl niemand." Als das Weißbrot fertig war, weckte man wieder den Jungen, gab ihm das Weißbrot und schickte ihn fort.

Als er nach Hause kam, war sein Weißbrot das süßeste. Da sagte die Mutter: "Ich kann mir nicht helfen, du bekommst das Gut, aber zuerst bringt jeder seine Braut hierher!" Jetzt war der dumme Bruder in der größten Not: er hatte ja gar keine Braut. Dennoch wollte er den alten Mann unter dem Stein vorher um Rat fragen. Er ging zum Stein und fing an zu weinen. Der alte Mann kam auch wieder heraus, hörte sich die Sache an und führte den Jungen wieder unter den Stein. Hier wurde ein alter Besenstiel genommen, vor diesen sechs Ratten gespannt und der Junge samt drei Ratten auf ihn gesetzt. So wurde er von dort weggeschickt. Fürwahr eine nette Geschichte: der Junge allein hatte keinen rechten Platz auf dem Besenstiel, wo sollten die Ratten noch Platz haben.

Als sie so eine kurze Strecke zurückgelegt hatten, sagte eine Ratte neben ihm: "Wenn doch der Besenstiel eine Kutsche und die Ratten davor Pferde wären!" Kaum hatte sie das gesagt, da verwandelte sich alles: der Besen wurde zur Kutsche, die Ratten zu Pferden. Nach einer Weile sagte wieder eine Ratte: "Wenn ich doch die Braut, er der Bräutigam und ihr beiden die Brautjungfern wärt!" So geschah es auch. Jetzt sagte noch die dritte Ratte: "Wenn wir doch in schönen Kleidern und die Pferde mit schönem Geschirr geschmückt wären!" Kaum hatte sie die letzten Worte beendet, als den Pferden allerlei schönes Geschirr ringsum entstand. Ebenso hatten sie selbst so vornehme Kleider an, von denen unser Junge nicht einmal geträumt, noch viel weniger in Wirklichkeit gesehen hatte.

So fuhr denn der dumme Bruder in der Kutsche und sechs Pferden nach Haus, so daß das Heimvolk erschrak. Die anderen Brüder hielten, als sie das sahen, nur den Mund weit auf und konnten nicht mehr bis drei zählen. Die Mutter zögerte jetzt auch nicht mehr und gab ihm das Gut mit allem Drum und Dran. Aber der Sohn wollte es nicht mehr, sondern sagte: "Ich will euer Gut nicht mehr, ich habe jetzt ein besseres Gut!" Mit diesen Worten setzte er sich neben seine Braut in die Kutsche und fuhr unter den Stein in das Rattengut, um dort zu leben. Und er ist es, der noch bis heute über unsere Ratten herrscht.