77. Der dankbare Heilige

Es starben einem Mann alle Kinder. Der Mann verbitterte darüber, schlug in die Ikone (=das Heiligenbild) ein Loch, band eine Schnur daran und zog sie über den Markt. Ein armes Knäblein sah das und fragte: "Was willst du für die Ikone haben?" "Einen Rubel", sagte er, und einen Rubel gab er. Er brachte die Ikone in seinen Laden und begann, sich vor ihr jeden Morgen und jeden Abend zu verbeugen. Das Geschäftchen fing an zu gedeihen, dem Knäblein ging es immer besser.

Sagte er dann: "Mama, wir werden schon einen Knecht gebrauchen." Kam der Abend. Kam ein Knecht unter das Fenster, klopfte: "Ist ein Knecht nötig?" "Nötig ist einer wohl." Man ließ ihn ins Zimmer. Der Sohn sagte: "Mama, koch eine Schüssel voll Eier und lege einen Laib Brot auf den Tisch!" Die Mutter kochte eine Schüssel voll Eier und legte den Brotlaib auf den Tisch. Aß der

Mann die Schüssel voll Eier leer und den Laib Brot ganz auf. Der Sohn sagte: "Mama, aus diesem wird wohl kein Knecht für uns." Ging jener am Morgen fort. Nun wurde es wieder Abend, wieder klopfte irgendjemand ans Fenster: "Ist ein Knecht nötig?" "Wohl ist einer nötig." Ein Mann kam ins Zimmer. Wieder sagte der Sohn: "Koch eine Schüssel voll Eier, hol einen Laib Brot ins Zimmer!" Jener aß auch alles auf. "Mama, aus diesem wird wieder kein Knecht für uns." Es kam der Morgen, da ging jener wieder fort. Kam der dritte Abend, wieder kam irgendjemand unter das Fenster: "Ist ein Knecht nötig?" "Nötig ist wohl einer." Der Sohn sagte: "Koch eine Schüssel voll Eier, hol einen Laib Brot ins Zimmer!" Jener setzte sich zum Essen hin, schälte das Ei ab, jener Knecht, und schnitt es in vier Scheiben. Schnitt ein Stück Brot, gab eine Scheibe der Mutter, die andere dem Sohn, die dritte aß er selbst, die vierte blieb übrig. Alle wurden denn auch satt. Sagte der Sohn: "Mama, aus diesem wird wohl ein Knecht für uns."

Sie lebten lange, wie sie lebten. Die Onkel des Knaben gingen mit Schiffen über das Meer Waren holen. Aber er hatte nicht einmal ein Schifflein, das Knäblein. Aber auch er hatte es nötig zu gehen. Der Knecht sagte zu ihm: "Wollen wir jenes alte Schifflein ausbessern, wollen wir auch gehen?" Gingen alle übers Meer Waren holen. Kamen sie in eine Stadt, in der die Königstochter im Besitz der Bösen (=von den Teufeln besessen) war. Keine Fremden wurden aus der Stadt herausgelassen, auch die Kaufleute nicht, bevor sie eine Nacht Wache gehalten hatten, auch die Onkel. Als sie erst von Zuhause weggekommen waren, wollten sie mit dem Knäblein nichts zu tun haben, aber nun, wenn der älteste Onkel die erste Nacht Wache halten mußte, bat er das Knäblein: "Komm, wache diese Nacht für mich!" Der Knabe war auch bereit zu gehen.

Der Knecht gab ihm 50 Kopeken Geld, sagte: "Die erste Ware, die dir entgegenkommt, die kaufe ab! Was gefragt wird, das bezahle!" Es kam eine Fuhre Werg (Hede) entgegen. Ein halber Rubel wurde verlangt, den bezahlte er auch. So lehrte der Knecht: "Streue das alles vor dem Altar aus!" In der Kirche stand eben auch jene Königstochter, die im Besitz der Bösen war. Der Knecht belehrte ihn: "Schaue du nirgends hin, noch denke an etwas, lies immerfort die heilige Schrift!" Ging das Knäblein zum Tisch (=Lesepult) und begann die Schrift zu lesen. Las eine Zeitlang die Schrift, da kam die Königstochter aus dem Sarg heraus, daß es nur so krachte. Kam heraus und begann das Werg zu schlingen, um an den Knaben heranzukommen. Schlang-schlang, schlang-schlang, nichts konnte sie tun. Der Hahn krähte, sie ging in den Sarg und polterte bloß noch. Am Morgen wurde gesagt: "Geht nun, sammelt noch Bein und Knochen zusammen, bislang fraß sie jede Gottesnacht einen Menschen auf." Man ging nachsehen: Das Knäblein liest am Tisch die Schrift. Alle waren guten Mutes. Es wurden die Glocken in der Kirche geläutet, es wurde zu Gott gebetet.

In der zweiten Nacht mußte der andere Onkel Wache halten. Jener bat wiederum: "Geh, wache auch für mich!" Der Knecht gab dem Knaben wieder 50 Kopeken Geld: "Was an Ware zuerst kommt, das kaufe! Was gefragt wird, das bezahle!" Eine Wergfuhre kam entgegen. Ein halber Rubel wurde verlangt, einen halben Rubel gab er. Streute wieder das Werg in der Kirche vor den Altar. Selbst setzte er sich wieder hin, um die Schrift zu lesen. Sie kam schon früher heraus und begann wieder zu schlingen. Sie schlang wieder so lange, bis der Hahn krähte, konnte aber nicht alles herunterschlingen. "Schling es herunter, komm an den Knaben heran!" Aber sie konnte nicht. Der Hahn krähte, sie ging wieder in den Sarg, daß es nur so krachte. Das Knäblein las bis zum Sonnenaufgang. Man ging nachsehen, er las die Schrift, daß die ganze Kirche nur so tönte. Da waren schon alle guten Mutes. In der Kirche wurde für das Knäblein zu Gott gebetet.

Es kam der dritte Abend. Da hatte er schon für sich selbst Wache zu halten. Der Knecht gab ihm wieder einen halben Rubel: "Was dir an Ware zuerst entgegenkommt, das kaufe! Was gefragt wird, das bezahle!" Eine Wergfuhre kam entgegen. Er kaufte sie ab. Ging schon früher in die Kirche, streute das Werg in den Altarraum. Ging das Knäblein schon bei Sonnenuntergang die Schrift lesen. Sie war auch da, sobald die Sonne unterging. Sie sagte: "Ich will sehen, was Vater mir zu essen geschickt hat. Letzte Nächte war das Essen nicht gut." Schlang, schlang sie das Werg. Über das Werg hin begann sie mit der Zunge schon den Knaben zu kosten. War ans Knäblein herangekommen, stand und schaute. Stand und stand, der Hahn krähte, sie geht gar nicht fort. Aber das Knäblein sagt vor dem Hahnenschrei auch nichts. Dann sagte es: "Wenn du schlecht bist, gehe fort; wenn du gut bist, setze dich neben mich!"

Am Morgen kam man nachsehen: Beide lesen am Tisch die Schrift. Na, war die Stadt aber voll Freude! Was hatte sie wohl für Menschen aufgefressen! Der König schenkte dem Knaben zwei Schiffe voll Waren, zwei neue Schiffe und eine Pferdefuhre voll Geld. Und was noch die Kaufleute in der Stadt schenkten, das war auch seins. Den Onkeln war das Herz sehr böse: er ging sehr reich nach Haus, aber darauf kamen sie nicht, daß er auch die Onkel bewahrt hatte!

Er kam nach Haus mit großem Vermögen, mit großen Schiffen. Da sagt der Knecht: "Nun, Sohn, ich gehe jetzt fort. Was gibst du mir zum Lohn?" Er sagte: "Siehe, ich verbiete dir nichts, was du begehrst, das gebe ich dir." Er sagte: "Ich will auch nichts anderes, als gib mir die halbe Frau!" Das verwehrte er auch nicht. Er nahm das Schwert und schlug die Frau zur Hälftedurch. Da sprang aus dem Herzen der Frau (=der Königstochter) etwas Schwarzes wie ein Hahn heraus. Er (=der Knecht) legte die Frau zusammen, da war sie ebenso wie vorher. Er sagte: "Nun, Sohn, jetzt kannst du leben, aber sonst hättest du kein Leben gehabt: sie hätte dich die ganze Zeit gequält. Ich nehme keinen Lohn von dir. Ich habe dir ja auch nur deswegen geholfen, weil du mich (=das Heiligenbild) aus jenes Mannes Gewalt gerettet hast. Leb nun mit deiner Frau die Friedenstage weiter, und ich werde jetzt fortgehen."