4. Die Treue des Löwen

Ein armer Bauer pflügte einst mit den Ochsen vor seiner Haustür auf dem Felde. Plötzlich hörte er ein heftiges Rauschen, und ein großer Adler kam, nahm ihn mitsamt den Ochsen und dem Pflug in die Krallen und brachte ihn zu einer Meeresinsel auf eine große Tanne, wo sein Nest war. Im Nest waren zwei Junge. Die Jungen fingen an, an den Ochsen zu fressen, der alte Adler flog fort, und der Bauer fiel samt dem Pflug von der Tanne herunter. Unten sah er sich um und fand dort viele Flinten, Pistolen, Messer, Schwerter, Pulver, Brotsäcke und andere Dinge. Da meinte er, daß der Adler wohl Reisende und Jäger dorthin gebracht und mit ihnen seine Jungen gespeist hatte. Er nahm zwei Flinten und zwei Pistolen, lud sie mit Pulver und begann, den Wald entlang weiterzugehen.

Plötzlich hörte er einen großen Lärm. Er stieg auf einen Baum und sah einen Löwen und einen Drachen ("eine Schlange") miteinander kämpften. Er überlegte, wem er helfen sollte, dem Drachen oder dem Löwen. Dann dachte er: "Dem Löwen!" und schoß mit der Flinte auf den Drachen. Da holte der Löwe den Sieg. Jetzt blickte sich der Löwe um, um zu sehen, woher die Hilfe gekommen war, und sah den Mann auf dem Baum. Er lief zu dem Baum und wartete. Der Mann überlegte: "Soll ich mich nun schnell hinunterstürzen und auffressen lassen oder soll ich langsam hinuntersteigen?" Da er meinte, daß ein plötzlicher Tod besser sei, ließ er sich hinab. Der Löwe aber ging ihm entgegen, legte ihn nieder, schlug mit der Tatze nach ihm und sagte: "Komm!" Und sie gingen beide weiter.

Als sie drei Tage unterwegs gewesen waren, kam der Hunger. Der Löwe steckte den Mann in einen Nußbaumstrauch, band die Zweige vorn zusammen und ging Futter suchen. Bald kam er zurück, ein großes Inselschaf zwischen den Zähnen. Der Löwe fraß es roh, der Mann briet sich ein Stück davon. Dann gingen sie wieder weiter. Drei Tage gingen sie, dann kamen sie zum Lager des Löwen. Die Löwenjungen überfielen ihn jaulend, aber der alte Löwe trieb sie fort. Dann fiel auch die Löwenmutter über den Mann her. Aber der alte Löwe trieb auch sie fort, schlug dann dem Mann mit der Tatze in die Seite und sagte: "Gehen wir fort, das ist für uns kein Leben."

Nun gingen sie los und reisten zehn Tage. Dann kamen sie an einen großen Berg. Da hörten sie eine laute Stimme: "Uu-uu-uluu, Uu-uu-uluu-uluu!" Sie gingen der Stimme nach und sahen eine große Grube. In der Grube war ein alter Mann, der sich eine große graue Decke umgeschlagen hatte und immerzu machte: "Uluu-uu, Uluu-uu!" Der Mann fragte: "Was machst du da?" Der alte Mann antwortete: "Komm her!" Der Mann und der Löwe stiegen in die Grube, und der Mann fragte: "Weißt du, wo mein Haus ist?" Der alte Mann antwortete: "Ich weiß es wohl. Was gibst du mir, wenn ich dich heimführe? Gib mir das, was dort ohne dein Wissen ist!" Der Mann überlegte: "Was kann ich dort ohne mein Wissen haben?" und versprach es. Der alte Mann breitete die graue Decke auf dem Boden aus und sagte: "Tritt drauf!" Aber der Löwe kam auch mit dem Mann auf die Decke. Da sagte der Alte: "Wenn du den Löwen mitnimmst, werde ich dich nicht heimbringen." Da sagte der Mann: "Ich hatte den Handel nicht für mich allein gemacht, ich machte ihn ja auch für meinen Diener, damit du uns beide heimbringst." Da sagte der alte Mann: "Na, tretet denn beide drauf, ich kann euch beide mitnehmen."

Nun flog der alte Mann mit ihnen über Meere und Berge und legte sie auf den Hof des Bauern nieder. Da sah der Bauer, daß ihm ein kleiner Knabe entgegenkam, und er gab dem Löwen ein Zeichen, den alten Mann zu reißen, und der Löwe zerriß den Alten. Es war des Bauern eigener Sohn, der ihnen entgegenkam. Jetzt gingen sie nach Hause. Da der Mann aber lange verschwunden gewesen war, war die Frau mit einem anderen Mann gegangen, und zu Hause war gerade Hochzeit. Jetzt aber war die Hochzeit aus, der Mann bekam seine Frau zurück und wurde Futtermeister des Gutes. Plötzlich wurde er krank und starb. Der Löwe begann ihn zu betrauern, ging auf das Grab des Mannes und starb auch aus Kummer.