216. Ein setukesisches Lügenmärchen

Es lebten einmal drei Brüder, die hatten solch einen großen Ochsen, daß man ihn nirgendwo als am Peipussee tränken konnte. Na, schön und gut, es setzte sich also ein Bruder auf den Kopf des Ochsen und führte ihn, der andere Bruder saß in der Mitte, der dritte aber auf dem Hintern. Sie fahren schon mehrere Tage, da kommt ihnen ein Reiter entgegen, begrüßt sie, und der älteste Bruder fragt: "Wohin gehst du?" Der sagte: "Erkennst du denn den Mann aus deinem eigenen Dorf nicht mehr? Ich reite aus dem Krieg nach Hause!" "Bringe dann meinem mittleren Bruder auch schöne Grüße, er sitzt dort in der Mitte des Ochsen." Der Reiter ritt einen ganzen Tag und die ganze Nacht, erst dann kam er zu dem mittleren Bruder, übergab die Grüße, und der wiederum befahl ihm, seinem jüngeren Bruder Grüße zu bringen. Am dritten Tag gelangte der Reiter zu dem jüngsten Bruder und übergab ihm die Grüße.

Danach dauerte es noch drei Tage, bis sie am Peipus-Ufer ankamen. Der Ochse trank den ganzen See mit zwei Schlucken leer, und sie fingen an, zurück nach Hause zu reisen. Sie gehen und gehen, da sehen sie, daß alles dunkel wird. Da flog aber ein großer Habicht herbei, griff den Ochsen mit seinem Schnabel und stieg in die Luft. Auf einer Wiese aber war ein Alter beim Schafehüten. Er bemerkte, daß die Welt dunkler wurde, daß eine große Wolke aufkam, und ging unter den Schafbock zum Regenschutz. Es war aber der Habicht, der mit dem Ochsen flog, und er flog auf den Rücken dieses Schafbocks, um den Ochsen aufzufressen. Der Alte guckte nach oben - wo war die Wolke geblieben? Im selben Augenblick aber fiel dem Habicht ein Ochsenschenkel nieder und dem Alten gerade ins Auge! Vor großem Schmerz sprang der Alte auf, der Habicht aber erschrak und flog in ein Dorf. Es war gerade Nachtzeit, und niemand sah es. Der Habicht fraß das Fleisch samt allen Knochen auf.

Der Alte ging nach Hause und befahl seiner Tochter, aufzustehen und in sein Auge zu dem Schenkel zu gehen. Die Tochter kroch in das Auge des Alten, konnte aber den Schenkel nicht einmal bewegen. Sie nahm eine große Fuhre voller Stricke, band sie um den Schenkel und kam selbst aus dem Auge heraus. Dann wurden alle Pferde des Dorfes an das Strickfuder gespannt, und der Schenkel wurde aus dem Auge des Alten herausgezogen. Als sie den Schenkel aus dem Auge herausbekommen hatten, begruben sie ihn im Berg mitten im Dorf.

Na, schön und gut, da fing ein Fuchs an, an diesem Schenkel zu nagen, und nagte in der Nacht so heftig, daß das ganze Dorf donnerte und das Dorfvolk nicht mehr schlafen konnte. Ein Mann hatte eine Flinte, und er begann mit seiner Salzflinte dem Fuchs aufzulauern. Eines Nachts tötete er denn auch den Fuchs und ging wieder nach Hause schlafen. Am Morgen stand er auf und trieb das ganze Dorf zusammen, den Fuchs zu schinden. So schunden sie ihn denn einen Tag und den nächsten darauf, schon eine ganze Woche hindurch und eine andere halbe Woche auch noch dazu, dann war die eine Seite des Fuchses geschunden. Was war nun zu tun? Wie kann man nun den Fuchs auf die andere Seite drehen? Mit dem ganzen Dorf arbeiteten sie, daß die Köpfe schwitzten, sie trieben Barren und Hebel darunter und taten alles Mögliche, konnten aber nicht den Fuchs auf die andere Seite drehen, mach, was du willst!

In dem Augenblick ging ein Bettler vorüber und fragte: "Was tut ihr hier?" Sie aber sagten: "Wir können den Fuchs auf keine Weise auf die andere Seite drehen!" Der Bettler schaute eine kurze Weile auf ihre Arbeit, ging dann hinzu und sagte: "Geht weit weg!" Dann stieß er bloß mit seinem Fuß zu, schon war die andere Seite des Fuchses da wie bei einem Handschuh! Der Dorfvolk freute sich sehr, und es begann nun auch die andere Seite abzuschinden. Und sie schunden die ganze Nacht hindurch. Dann war auch die andere Seite geschunden, und aus dem Fuchsfell wurde dem Sohn des Mannes, der den Fuchs getötet hatte, ein Hut genäht, wobei noch sieben Schaffelle hinzugelegt wurden, erst dann wurde ein ordentlicher Hut daraus.

Jetzt fing man an, das Fuchsfleisch einzusalzen. Alle Kübel des Dorfes wurden geholt, es reichte aber noch nicht aus. Zudem hatte das Dorfvolk große Not, weil es nirgendwo soviel Salz gab. Na, schön und gut, sie spannten also ihre Pferde und fuhren auf vierzig Droschken los, um Salz zu holen. Sie fahren einen Tag, fahren den anderen, kommen aber noch immer nicht zu Salz. Der Fuchsschädel aber war dort auf dem Wege liegengeblieben, und sie alle fuhren mit ihren vierzig Droschken durch das Augenloch in diesen Schädel hinein und fingen an, im Fuchsschädel ringsherum zu fahren. Gerade zur gleichen Zeit aber lief ein Hund denselben Weg, sah den Schädel auf dem Boden, packte ihn mit den Zähnen und brachte ihn nach Hause in die Hürde.

Die Pferde aber im Schädel fahren die ganze Zeit, so daß das ganze Haus bebt und donnert. Das Hausvolk kam in die Hürde nachzusehen, was dort eigentlich los war. Sie guckten und schauten, bis sie begriffen, woher dieses Beben und Donnern kam, und zuletzt verstanden sie, daß das Donnern aus dem Schädel kam. Dann befahlen sie dem Hund, den Schädel aus der Hürde wegzubringen. Der Hund nahm den Schädel zwischen die Zähne und brachte ihn auf den Rasen unter einen Wagen. Ach je! Wie es da losging, daß die Pferde mit Droschken aus dem Augenloch des Schädels heraustrabten, so daß der ganze Rasen voll wurde.

Der Alte kam auch heraus nachzusehen, was für ein großer Lärm dort draußen war. Und als er die Männer mit ihren Droschken sah, fragte er: "Wohin geht ihr?" Sie klagten ihm ihre Not und sagten, daß sie nach Salz fahren. Der Alte steckte die Hand in die Tasche, nahm ein Salzkrümchen heraus, warf es auf den Boden und sagte: "Nehmt Salz, soviel ihr nur wünscht!" Die Männer schöpften alle vierzig Droschken voll, bedankten sich sehr bei dem Alten und fuhren dann weiter nach Hause. Sie fuhren das ganze Jahr hindurch, bis sie zu Hause ankamen. Zu Hause füllten sie dann die Kübel des ganzen Dorfes voll mit Fuchsfleisch, aber zwei Schenkel blieben noch übrig, die konnte man nirgendwo mehr unterbringen. Von diesem Salzkrümchen aber konnten sie auch nicht einmal die Hälfte mitbringen. Der Alte steckte es wieder in seine Tasche ein.

Und nun lest und sagt, was in dieser Geschichte das Allergrößte ist! Ich möchte meinerseits beinahe glauben, daß das Allergrößte in dieser Geschichte wohl die Tasche des Alten ist.