190. Die kluge Bauerntochter wird die Frau des Richters

Einst wollte ein Gutsherr einem Bauern den Hof wegnehmen. Der Bauer war voller Sorgen, denn er hatte ein hübsches Gesinde, gut bearbeitete und gedüngte Felder und stattliche Gebäude, und seine Familie war viele Geschlechter hindurch auf der Stelle ansässig gewesen. Deshalb wollte er seine Stelle um keinen Preis aus der Hand geben.

Das Männlein ging also ins Gericht, um über seinen Herrn zu klagen, daß er seinen Hof gut gepflegt und bebaut habe und in keiner Weise gegen den Gutsherrn gefehlt oder ihn gekränkt habe. Als Richter war dort ein den Bauern gegenüber sehr gut und freundlich gestimmter Mann tätig. Eines Tages wurden der Bauer und der Gutsherr vors Gericht gerufen. In alter Zeit habe man aber großen Wert auf Rätsel und deren Lösungen gelegt. Deshalb befahl auch der Gerichtsherr dem Gutsbesitzer und dem Bauern, daß beide zum nächsten Gerichtstag ein Rätsel ins Gericht bringen würden; wessen Rätsel der Gerichtsherr nicht lösen kann, der bekommt das Recht.

Beide gingen nach Hause, beide hatten genug Sorgen und Gedanken. Der Gutsbesitzer nahm einen Bleistift und einen Stoß Papier und fing an zu denken, aber kein Rätsel fiel ihm ein, von dem er gehofft hätte, daß es nicht erraten würde. Der Bauer, ebenso sorgenvoll, machte zuerst nichts. Das sah seine zwölfjährige Tochter und fragte den Vater: "Was für Sorgen hast du, daß du weder essen noch trinken willst?" Der Vater erzählte seiner Tochter die ganze Geschichte: "Wenn ich ein solches Rätsel nicht finde, dann sind wir unserer Stelle los, was werden wir dann anfangen?" "O, macht nichts, wir werden schon damit fertig werden. Geh nur ins Gericht und frage die Gerichtsherren: Wie alt ist die Sonne und wie schwer ist der Mond? Wir wollen sehen, ob sie darauf Antwort geben können." "Woher weißt du denn das, mein Kindchen?" fragte der Vater. "Siehe, Vater", antwortete die Tochter, "die Sonne wird ja niemals älter als einen Tag: am Abend geht sie unter, und wenn sie am nächsten Morgen wieder aufgeht, dann ist das ja der nächste Tag. Und dann sagen wir, daß der Mond der Schwere eines Pfundes gleich ist, denn das Pfund hat ebenso vier Viertel."

Es kam der Gerichtstag. Der Gutsherr und der Bauer gingen ins Gericht. Zuerst wurde der Gutsherr gefragt: "Gib dein Rätsel auf!" Er hatte aber nichts aufzugeben. Es wurde der Bauer gefragt: "Wo ist dein Rätsel?" Der Bauer habe gefragt: "Wie alt ist die Sonne? Und wie schwer ist der Mond?" Die Gerichtsherren raten und raten, sie bekommen die rechte Lösung aber nicht heraus. Schließlich erklärte der Bauer selbst ihnen sein Rätsel. Da verstanden die Gerichtsherren wohl, daß dies so ist und sprachen ihm seine Stelle wieder zu. Dann fragte der Hauptrichter: "Woher hast du dieses Rätsel? Selbst ausgedacht oder hast du es von jemandem anderen bekommen?" Der Mann erzählte, daß er eine zwölfjährige Tochter zu Hause habe, von der er dieses Rätsel bekommen habe. Der Richter wunderte sich, daß er ein so kluges Kind habe, und habe zugleich den Mann gebeten, die Tochter zu ihm zum Anschauen zu bringen. Der Mann ging mit der Tochter zu dem Richter. Diese gefiel ihm sehr, sie war auch wirklich schön, ein schönes, kluges und vernünftiges Kind. Der Richter ließ das Mädchen auf seine Kosten groß ziehen und nahm sie später zur Frau, und sie lebten ein glückliches Eheleben.

In der Nähe lagen die Pferdekoppeln von zwei Bauernhöfen einander gegenüber und zwischen ihnen stand ein armseliges Zaunwrack. Der eine Hauswirt hatte einen Wallach in der Koppel, der andere eine trächtige Stute. Eines Nachts ging die Stute über das Zaunwrack hinüber in die andere Koppel zu dem Wallach der anderen Familie und gebar dort ein Füllen. Am Morgen kam sie wieder in ihre Koppel zurück, und das Füllen blieb nun bei dem Wallach. Der Hauswirt wollte am Morgen das Füllen abholen, aber der andere Hauswirt wollte es nicht abgeben: das sei seines Wallachs Füllen! Der erste sagte wohl: "Das kann in aller Welt nicht sein, daß dein Wallach ein Füllen haben könnte." Doch hört der andere nicht darauf, sondern will eben das Füllen behalten. Schließlich klagte der Mann es beim Gericht. Der andere Mann war aber ein guter Freund des Richters, brachte ihm Bestechungen, und das Gericht sprach denn auch das Füllen seinem Wallach zu. Der rechtmäßige Besitzer des Füllens, der die Stute hatte, kam mit traurigem Gesicht aus dem Gerichtszimmer heraus.

Das sah des Gerichtsherrn junge Frau aus dem Fenster und fragte den Mann, warum er so traurig sei. Der Mann erzählte, wie passiert war: "Das ist eine richtige Ungerechtigkeit, daß ich ohne dieses Füllen bleibe!" Die Frau antwortete: "O, macht nichts, das Füllen wird dennoch dir gehören, ich werde dich schon belehren: Der Richter geht täglich am Rand der Sandgrube im Wald spazieren. Nimm morgen deine Angelgeräte und gehe dorthin auf den Sand und tue so, als ob du Fische fangen würdest. Wenn nun der Herr das sieht, wird er natürlich fragen, was du vorhast, und wird es für einen Unsinn halten, daß du dort Fische fangen willst, wo es ja gar keine geben kann."

So war es dann auch. Der Mann fing am nächsten Tag auf dem Sand Fische, und das sah auch der Herr auf seinem Spaziergang. Der Herr brach in Lachen aus, als er hörte, daß der Mann dort Fische fangen wollte. Der Mann antwortete: "Ja, das ist wohl wirklich unmöglich, daß hier im Sand Fische zu fangen wären, denn Fische leben ja im Wasser. Aber ich meine, daß es ebenso unmöglich ist, daß ein Wallach ein Füllen bekommt." Der Gerichtsherr wunderte sich über die Klugheit und Schläue des Mannes, erkannte das Füllen wieder seiner Mutter zu und fragte den Mann, wie er auf diesen Gedanken gekommen war. Der Mann berichtete, daß des Richters Frau selbst ihn das gelehrt habe. Das war wiederum nach Ansicht des Herrn nicht gut, daß die Frau sich auf diese Weise in seine Sachen mischte, und er drohte, sie fortzujagen, wenn sie es noch einmal wagen würde, es zu tun. Die Frau aber hörte nicht darauf, sondern belehrte stets andere, wenn es nötig war.

Des Herrn Geduld war schließlich auch zu Ende, und er sagte zu der Frau, daß sie bis zum nächsten Tag von ihm fortziehen müsse. Er versprach, sie mit dem Kutscher, der Kutsche und den Pferden so weit bringen zu lassen, wie sie wolle, und ihre allerteuerste Habe, was sie selbst wünsche, mitzunehmen. Die Frau bereitete ein großes Fest, zu dem alle Freunde und Bekannte zusammengerufen wurden, und bat gute Speisen und Getränke. Besonders sorgte sie dafür, daß der Herr tüchtig Schnaps zu trinken bekam, so daß er schließlich ganz betrunken war und von nichts mehr wußte. Dann ließ die Frau die Pferde vor die Kutsche spannen, und sie fuhren zu einer Heuscheune, wo der Kutscher zurück nach Hause geschickt wurde. Als der Herr sich ausgeschlafen hatte und wieder nüchtern war, erschrak er und fragte die Frau, was das alles bedeute, daß sie in der Heuscheune sind. Die Frau erinnerte ihn, daß er ihr versprochen habe, den allerliebsten Besitz mitzunehmen; der Herr sei ihr am allerliebsten gewesen. Da bat der Herr von ganzem Herzen um Verzeihung. Sie gingen nach Hause und lebten glücklich. Vielleicht sind sie noch jetzt am Leben.