171. Der Specht als Vorbild für die Verzagte

In uralter Zeit habe ein Bauer sich eine Jungfrau ins Haus geholt. Nach der Hochzeit sei die junge Frau sogleich angehalten worden, einen Ballen Leinen zu weben. Die Fäden seien aber schlecht gesponnen gewesen, und das Gewebe sei gerissen, schrecklich gerissen gewesen. Man weiß natürlich, daß eine junge Frau auf der neuen Stelle zuerst Angst hat: vielleicht murrt die Schwiegermutter, daß die Schwiegertochter faul ist, oder der Mann meint, daß die Frau überhaupt nicht zu weben versteht. Deshalb muß die junge Frau sehr vorsichtig sein, daß sie keinen Ärger hervorruft, denn "aus nichts kommt der Streit, und aus dem Hunger das Fetzen!" sagt das Sprichwort, oder auch: "Die Schwiegertochter hat viele Fehler, die Schwiegermutter ist immer richtig." Sei dem, wie es nun ist, aber eines Tages sitzt die junge Frau wieder vor dem Gewebe und webt, aber mach, was du willst, das Weben geht eher zurück als vorwärts; mit jedem Schlag reißen zehn Fäden, die junge Frau fügt sie zusammen und webt weiter, aber die Fäden gehen immer wieder kaputt, und wieder müssen sie geknüpft werden. Bei solcher Mühe fängt ihr auch noch der Kopf an zu schmerzen; schließlich reißt auch die Geduld der jungen Frau. Sie läßt das Leinen dort an der Stelle und läuft in den Wald, setzt sich auf einen Baumstumpf, um sich für ein Weilchen zu zerstreuen. Dort wird ihr aber das Herz vollends traurig. Das Weinen drängt sich ihr auf, und sie weint. Plötzlich hört sie hinter ihrem Rücken an einem Baum irgendein Klopfen. Die junge Frau sieht sich um, sieht oben auf dem Baum einen Specht, der furchtbar am Baum hämmert. Die junge Frau betrachtet neugierig das Tun des Spechtes und fragt schließlich: "Was hämmerst du dort eigentlich am Baum?" "Ich mache mir ein Nest", sagt der Specht und hämmert weiter. "Aber wann wirst du auf diese Weise ein Loch in den Baum bekommen?" forscht die Frau weiter. "Ich werde wohl schon fertig, ich schlage heute etwas und morgen etwas, schließlich wird es eine große Menge, und das Nest wird auch schon fertig", läßt sich der Specht vernehmen. Die junge Frau denkt darüber nach: "Wenn der winzige Specht schon ein so großes Loch in den Baum hacken kann, ohne daß ihm die Geduld endet, so müßte ich mit dem Gewebe schon längst fertig werden!" Sie trocknet die Tränen in Augen, geht nach Hause, knüpf die zerrissenen Fäden wieder zusammen und webt schließlich das Leinen fertig.