170. Der Seelensitz im Jenseits

In alter Zeit lebten zwei Brüder nebeneinander in einem Dorf, einer war sehr reich, aber der andere war gnadenlos arm. Dieser durfte nicht mal in die Nähe des Hauses des reichen Bruders kommen, jener ertrug ihn überhaupt nicht in seiner Nähe. Wenn er auch nur irgend etwas nötig hatte, so mußte er hinter dem Tor warten; nur dorthin schickte der reiche Bruder mit seinem Knecht das, was er gerade wünschte, aber ins Haus ließ er ihn nicht herein. Er sagte: "Du wirst mit deinen Bastschuhen nur mein Haus verdrecken!"

Der reiche Bruder kannte alle großen Kaufleute und Stadtherren, diese gingen stets zu ihm auf Besuch und priesen und ehrten ihn sehr. Zuletzt wurde auch der König eingeladen. Er kam auch und lobte: "Seht, dieser Mann ist der höchste und ehrenhafteste in meinem Land!" Waren so alle Großen der Erde bei ihm gewesen, kam ihm schließlich die Begierde an, auch den Himmelsvater zu Besuch zu haben. Er fing an, zu den Menschen davon zu sprechen, wie man wohl den Himmelsvater zu Besuch bekommen könnte. Da wurde ihm gesagt: "Es wird dir wohl kein anderer einen Hinweis geben können: dort weit im öden Wald ist ein kleines Häuschen, dort lebt ein altes Männlein, dieses weiß es vielleicht."

So ging denn der Reiche dorthin, dem Hinweis nach, und sah, daß es auch richtig war: dort war das alte Männlein in einem kleinen Häuschen. Da fing er denn an, ihn zu fragen: "Wie könnte ich den Herrn Gott sehen?' Aber der alte Mann sagte: "Wozu willst du denn mit ihm treffen?" Da sagte er wiederum: "Ich möchte ihn fragen, ob für uns in jener Welt nach unserem Tod auch irgendein Leben sein wird." Da sagte der alte Mann: "Er kommt wohl zuweilen zu mir, aber ich weiß nicht, wann er jetzt wieder kommt. Aber du, Bruder, setz dich hierher und warte bis zum Abend, vielleicht wird er doch noch zu mir kommen." So war denn der Mann bis zum Abend dort, aber es kam niemand. Wohin sollte er nun am Abend noch gehen? So fragte er denn: "Werde ich hier auch Nachtherberge bekommen?" Da sagte der alte Mann: "Jenseits des Vorraums ist ein kleines Zimmerchen, das ist des Herrn Zimmer. Dort ist Speise und Trank auf dem Tisch, und das Lager ist auch gerichtet, lege dich nur hin!" So ging er denn durch den Vorraum dorthin. Dort war eine Tür, er ging hinein und kam in ein sehr hübsches Zimmer; es war alles schön geschmückt. Er sah dann von einer Stelle hinaus, dort waren sehr hübsche Blumen und Blüten und auch Beeren daran. Dann sah er von einer anderen Stelle hinaus, dort war es noch viel hübscher. So gelüstete es ihm nicht, schlafen zu gehen, die ganze Nacht hindurch sah er sich nichts als diese Schönheit an. Als er dann am Morgen zu dem alten Mann ging, sagte dieser: "Wie war es mit dem Nachtquartier?" Er aber sagte: "Was konnte diesem Nachtquartier fehlen? Es war besser, als es der König hat!"

Da sagte der reiche Mann wieder: "Wenn ich doch irgendwie den Herrn und Vater treffen könnte!" Da sagte der alte Mann wiederum: "Warte nun hier bis zum nächsten Abend, vielleicht wird der Vater dennoch zu mir kommen." So wartete er denn dort auch so lange, bis es wieder Abend wurde, aber es kam niemand. Dann bat er wieder um Nachtherberge, und der alte Mann sagte: "Du weißt ja schon den Weg, gehe selbst hin!" Da ging er denn auch durch den Vorraum und kam zur Tür, ging dann über die Schwelle hinein, aber was war dort? Sehr dunkle Nacht und kaltes Zimmer, wie abscheulich alles! Er wollte ins Zimmer treten und stürzte Hals über Kopf in den Schlamm hinein. Wohl riß er sich hoch und wollte fortgehen, aber er konnte sich auf keine Weise mehr retten. Als er bis zum Morgen dort gewesen war, schien die Nacht ihm so schwer gewesen zu sein, wie er sie nirgends sonst erlebt hatte. Als es endlich Morgen wurde, öffneten sich die Türen und er kam wieder hinaus, ging in des Freundes Zimmer, und dieser fragte: "Wie war denn nun diese Nacht, Freundchen?" Aber der erwiderte: "O je, liebes Freundchen, sprich nicht davon, ich habe mein ganzes Leben lang keine Not gesehen als diese!" Aber da sagte der Freund: "Weshalb gingst du denn in dieses Zimmer? Warum gingst du denn nicht dorthin ins helle Zimmer?" Aber er sagte: "Lieber Freund, es glückte mir nicht, ich wäre schon gegangen." Da fing der alte Mann an zu sprechen: "Sieh, lieber Bruder, das Zimmer,

in dem du jetzt warst, das war das Lager deiner Seele in der kommenden Welt. Aber das helle Zimmer war die Lagerstatt der Seele deines Bruders: du wolltest ja wissen, wie das Leben dort sein wird, so ist es dir denn gezeigt worden auch ohne den Vater." Aber da begann der reiche Mann zu jammern: "O je, ich will es nicht! Ob du nicht vielleicht die Zimmer vertauschen könntest?" Aber der alte Mann sagte: "Das kann ich nicht, Bruder. Hast du gesehen, als du hierher kamst, daß dort am Wegrand eine siebenhundertjährige Eiche stand? Kannst du sie ausreißen und eine andere wieder an ihre Stelle setzen? Siehe, würde sie Wurzel schlagen? Ebenso wenig kannst du auch die Lage der Seelen austauschen." Aber der reiche Mann forderte: "Könnte es denn nicht auf eine andere Weise gemacht werden, vielleicht durch irgendeine Zahlung? Ich würde wohl zahlen, was nur immer verlangt wird." Aber der alte Mann sagte: "Schau, es geht überhaupt nicht anders, als daß du zu deinem armen Bruder gehst und zu seinem Knecht wirst. Dann gehorche allem, was auch immer er dir befiehlt. Wenn er dich zum Knecht nehmen sollte, ist es gut, wenn du ihm in allem gehorchen wirst. Wenn du dann stirbst und dein armer Bettler-Brüder zu Himmelsvater betet: ,Gewährt nun meinem Bruder auch, zu mir in mein Hinterzimmer zu kommen!', dann gelangst du auch dorthin, wenn der Himmelsvater es noch erlaubt, aber wenn er es nicht erlaubt, dann wirst du es nicht haben."

Da begann denn der reiche Mann zurückzugehen. Als er nach Hause kam, ging er auch geradeswegs zu seinem armen Bruder und bat diesen sehr: "Nimm nun, lieber Bruder, mich zum Knecht an, ich werde auch auf alle deine Worte hören. Wenn du dann einmal stirbst und ich auch, so nimm mich auch zu dir, damit ich nicht mehr an einen solchen Ort gelange, wo ich gerade eine Nacht war: dort war es sehr schlimm, kalt und finster und Schlamm noch dazu, so daß man sich überhaupt nicht dort aufhalten konnte, und sehr langweilig war es auch!" Da tat er dem armen Bruder leid, und er nahm den reichen Bruder zu sich. Dann ließ er den Armen auch an all seinem Hab und Gut teilhaben. So konnte dieser auch wieder wie der Bruder reich leben, und hernach lebte der reiche Bruder mit dem armen Bruder sehr schön, und sein Leben verbesserte sich auch nach dem Sterben.