In alter Zeit lebten drei Schwestern, aber die allerjüngste war die allerbeste und allerfleißigste unter ihnen: sie war dem Vater und der Mutter stets nach Gefallen, und ihnen war wohl dabei zu Mut. Aber die älteren Schwestern waren darüber sehr erzürnt. So gingen sie einmal zu dritt in den Wald Beeren suchen, und die jüngere Schwester war beim Beerensammeln die fleißigste, sie bekam die meisten Beeren. Die anderen Schwestern bekamen ihre Körbe nicht voll, sie aber bekam ihren Korb voll. So wurden die anderen Schwestern darüber erzürnt, und die älteren Schwestern nahmen denn auch die jüngere Schwester und töteten sie und nahmen ihr auch die Beeren fort. Sie nahmen sie für sich und warfen sogar ihren Korb in einen Busch im Wald. Dann gingen sie nach Hause und sagten zu Vater und Mutter: "Seht, ihr lobtet wohl die jüngere Schwester am meisten, aber seht, wie diese Faule jetzt beim Beeren-pflücken zurückblieb!" So erwarteten wohl Vater und Mutter sie zurück nach Haus, aber sie kam niemals mehr nach Hause. Da hatten Vater und Mutter großen Kummer, aber die anderen Schwestern begruben sie am Rand der großen Landstraße. Auf ihrem Grabhügel aber wuchs ein hübsches Birklein.
Da gingen einmal zwei Borstenhändler vorüber, und auch diese Leutchen besahen sich die Birke, ob daraus für sie gutes Kannelholz werden könnte. So hieben sie die Birke für sich nieder und gingen mit ihr ihres Weges. Am Abend kamen sie dorthin, wo das Mädchen gelebt hatte, zu ihrem Vater, und blieben dort zur Nacht. Da machten sie sich das Kannelholz fertig und legten auch hübsch die Saiten drauf. Als die Kannel fertig war, begannen die Männer, auf der Kannel zu spielen. Aber die Kannel begann zu singen:
"Hört, ihr beiden Handelsleute,
Die Schwestern haben mich getötet,
Getötet haben sie mich und in der Erde begraben,
Begraben haben sie mich an der großen Landstraße,
Zurückgelassen haben sie meinen Beerenkorb;
Weggenommen haben die Schwestern meine Ehre;
Aus mir ist ein hübsches Birklein gewachsen,
Vorüber gingen zwei Handelsleute,
Das Birklein hauten sie nieder,
Rissen das Hölzlein für die Kannel aus!"
Da hörte der Vater den Gesang und erbat sich die Kannel in seine Hand, um auf ihr zu spielen. Aber die Handelsleute wollten sie durchaus nicht hergeben. Schließlich gaben sie die Kannel doch dem Vater. Er nahm die Kannel und fing auch an zu spielen, und wieder fing die Kannel an, die gleichen Worte zu singen:
"Höre, liebes Väterchen,
Die Schwestern haben mich getötet,
Die Schwestern haben meine Ehre bekommen,
Die Schwestern haben an meiner Stelle das Lob erhalten,
Die Schwestern haben mich in der Erde begraben,
Sie haben mich am Rand der großen Landstraße begraben,
Zurückgelassen haben sie meinen Beerenkorb;
Ein hübsches Birklein ist aus mir gewachsen,
Vorüber gingen zwei Handelsleute,
Sie hauten das Birklein nieder,
Sie rissen das Hölzlein für die Kannel aus!"
Als die Mutter das hörte, wollte auch sie die Kannel in ihre Hand bekommen. Wiederum wollten die Handelsleute sie nicht hergeben, aber schließlich gaben sie sie doch her. Da fing sie auch an zu spielen, und die Kannel begann auch ihr wieder zu singen:
"Höre, liebes Mütterchen,
Die Schwestern haben mich getötet,
Getötet und in der Erde begraben,
In der Erde begraben haben sie mich,
Am Rande der großen Landstraße haben sie mich begraben,
Zurückgelassen haben sie meinen Beerenkorb,
Die Schwestern haben an meiner Statt das Lob erhalten,
Die Schwestern haben meine Ehre bekommen;
Es wuchs aus mir ein hübsches Birklein,
Vorüber gingen zwei Handelsleute,
Das Birklein hauten sie nieder,
Rissen das Hölzlein für die Kannel aus!"
Als die Mutter die Kannel geschlagen hatte, wollte man die Kannel auch der Schwester geben: "Spiel auch du auf ihr!" Aber sie begann sich dagegen zu wehren: "Ist das denn überhaupt ein Gesang? Es ist nur eine ausländische Zauberei. Wer weiß, von wo die Handelsleute sie sich geholt haben? Da geht es nicht mit rechten Dingen zu!" Aber es wurde ihr trotzdem die Kannel gegeben. So fing auch sie an zu spielen, sie hatte da keine Rettung. Da fing die Kannel auch für sie an zu singen:
"Höre, liebes Schwesterchen, du hast mich getötet,
Getötet und in der Erde begraben,
Begraben hast du mich an dem Rand der großen Landstraße,
Zurückgelassen hast du meinen Beerenkorb,
Du hast an meiner Statt das Lob erhalten,
Du hast meine Ehre bekommen;
Aus mir wuchs ein hübsches Birklein,
Vorüber gingen zwei Handelsleute,
Sie hieben das Birklein nieder,
Rissen das Hölzlein für die Kannel aus!"
Als die Schwester ihre Reihe abgespielt hatte, da wurde sie auch der anderen Schwester zum Spielen gegeben. Da wagte auch diese sich nicht zu widersetzen und mußte ebenfalls spielen. So nahm sie sie auch, fing an zu spielen, da sang die Kannel ihr die gleichen Worte wie den anderen. Da begriffen Vater und Mutter, was das für eine Kannel war, die so einen Gesang sang, daß es da schon nicht mehr mit rechten Dingen zuging. Was blieb ihnen nun sonst übrig, als den Handelsleuten zu sagen: "Wir werden euch diese Kannel nicht mehr geben. Sie wird wohl uns gehören müssen." Die Handelsleute aber wollten auf keinen Fall die Kannel losbekommen. Aber die Elterchen gaben nicht nach. Da nahm die Mutter die Kannel und sagte: "Seht, das ist doch meine jüngste Tochter!"
Da ging sie denn später mit ihr zu einem alten Weib und ließ es nachsehen: "Was für Zeichen hast du? Ist aus ihr noch irgendwie etwas zu machen?" Aber das alte Weib sagte: "Siehe, ich werde jetzt nachsehen, was man tun kann." Da verwandelte sie denn auch das Kannelholz in alles, was sie nur auf der Welt kannte, aber zuletzt verwandelte sie es in einen Troddelstengel. Dann lehrte es die Mutter: "Wenn du mit ihr nach Hause gehst, brecht diesen Troddelstengel in zwei Hälften und legt ihn wiederum an das Fußende des Bettes!" Als die Mutter nach Hause ging, tat sie dann auch nach ihren Worten und legte die eine Hälfte des Troddelstengels ans Kopfende, die andere an das Fußende. Als sie dann am Morgen dorthin schaute, wohin sie die Troddelstengel gelegt hatte, sah sie, wie ihre jüngste Tochter wieder am Fußende saß, und sie war wieder hübsch und gesund wie früher. Und auch noch ein Schwiegersohn saß am Kopfende: Seht, die Tochter hatte in der großen Schmerzensnot auch noch einen Mann zum Gemahl bekommen. So wurde sie wieder die meistgeliebte unter allen anderen, und sie lebte ein gutes Leben. Aber die anderen wurden noch mehr genarrt, und sie wurden verachtet, auch wenn man ihnen keine andere Strafe auferlegen konnte: seht, den Eltern ist es ja um alle ihre Leibeskinder leid; sie getrauten sich nicht, auch die anderen endgültig zu verdammen, obwohl sie solche Übeltat getan hatten.