129. Die Krone des Schlangenkönigs und die Sprache der Vögel

Die Schlangen haben ihren Hauptältesten oder König. Jedes Jahr kommen sie einmal bei ihrem König zusammen, um zu beratschlagen. Auf dem Beratungsplatz liegen die Schlangen auf der Erde ausgestreckt, die Köpfe alle nach innen, die Schwänze nach außen, von weitem anzusehen wie eine Krone oder ein Kranz. In der Mitte des kranzförmigen Nestes liegt zusammengerollt der Schlangenhäuptling. Er hat am Kopfende einen roten hahnähnlichen Kamm oder eine Krone. Die Schlange mit der Krone wird ihr König genannt.

Einmal sei ein Mann aus adligem Geschlecht des Weges gefahren und habe eine solche Schlangenkonferenz zufällig zu sehen bekommen. Der große Herr habe es begehrt, die Krone des Schlangenkönigs zu gewinnen, denn in dieser Krone soll viel Klugheit stecken, wenn sie gekocht und dann gegessen wird: wem das möglich ist und wem es glückt, sie zu bekommen, der versteht die Sprachen aller Vögel unter dem Himmel. Während der Fahrt hatte der Herr keinerlei Möglichkeit, zu der Krone des Schlangenkönigs zu gelangen, denn die ganze Schlangenschar hielt leise und aufmerksam eine starke Wachordnung um ihren Häuptling. Als er nach Hause gekommen sei, habe er seinem Diener, dem Kutscher, befohlen: "Du sahst den Platz, wo die Beratung der Schlangen war, geh, hol mir die Krone des Schlangenhäuptlings! Ich zahle dir für diese Mühe einen guten Preis."

Der Diener widersetzte sich dem Befehl seines Herrn nicht. Er nahm aus dem Stall seines Hausvaters und Herrn das allerschnellste Pferd und ritt wie auf den Flügeln des Windes getragen zu der Stelle des Glücks oder Unglücks. In seiner rechten Hand hielt er ein langes Schwert. Das Pferd lief wunderschnell. Mit ihm hatte der Diener das Glück, sehr nahe an die Beratung der Schlangen zu gelangen. Als die Schlangen es noch nicht merkten, schnappte der Diener mit der Spitze des Schwertes die Schlangenkrone und sofort mit dem zweiten Schnappschuß spießte er sie auf die Spitze des Schwertes, und stürmte dann im Galopp davon! Ein paar Werst hatte das flinke Pferd das Glück, den Diener von der Not- und Unglücksstelle fortzutragen, als er plötzlich rückwärts schaute. O Angst, o Tod und Unglück, was der Diener nun in seinem Herzen fühlte! Die Schlangen seien schon alle sehr nahe gewesen, sie seien gehopst wie Vögel im Flug in der Luft. Der Diener habe dem Pferd noch die Sporen gegeben, dennoch habe das den Lauf der Schlangen nicht geändert. Nach einer Weile seien die Schlangen schon über den Kopf des Mannes vor das Pferd auf die Erde geflogen, und manche hätten schon das Pferd und den Mann am Kopf gehascht. Der Diener habe das Schwert aufrecht in der Hand gehalten, an dessen Spitze war die Krone des Schlangenkönigs. Der Mann hatte schon den Tod vor Augen. Dennoch sei ihm ein guter Gedanke gekommen: er habe mit der anderen Hand seinen Überrock ("Soldatenmantel") aufgemacht und habe ihn hinter sich auf den Weg geworfen. Die Schlangen hätten sich alle mit einem Knall auf den Rock geworfen. Inzwischen war der Mann ein gutes Stück weitergekommen, so daß die Augen der Schlangen ihn nicht mehr sehen konnten. So hatte sich der Mann mit dem guten Glücksfang nach Hause gerettet.

Der Lauf der Schlangen sei folgendermaßen vor sich gegangen: sie hätten sich auf der Erde zusammengekringelt, dann seien sie aufgesprungen, in der Luft seien sie aus dem gewundenen Knäuel losgeschossen wie Flammen, dann sei ihre Kraft vergangen, und sie hätten sich zur Erde herabgelassen, wo sie sich wieder in der gleichen Art vorbereitet hätten. Am nächsten Tag sei man zur Unglücksstelle gegangen. Dort habe man nichts weiter gefunden als etwas graue Wolle vom Überrock.

Der Hauswirt habe dem Diener befohlen: "Koche die Schlangenkrone im Kessel ordentlich ab und bring sie zu mir! Jedoch mußt du sie so kochen, daß du der Krone beim Rühren nicht die Haut abschneidest! Du darfst auch selbst nicht davon kosten oder die Suppe schlürfen!" Der Diener habe alles nach dem Befehl des Herrn getan, habe die Krone ordentlich abgekocht und dem Herrn gebracht. Der Herr habe gesehen, daß die Krone unangerührt war, und habe sie dann, ohne länger zu zweifeln, gegessen. Während des Kochens habe der Diener aber etwas von der Suppe gekostet, um zu erfahren, ob sie auch richtig gekocht war; er glaubte nicht, daß darin schon etwas von der Klugheit der Krone gewesen wäre.

Am dritten Tag sei der Herr wieder mit dem Diener des Weges gefahren. Ein Rabe sei über die Köpfe der Fahrenden geflogen und habe krah-krah geschrien. Der Herr habe gefragt, ob der Diener vielleicht wisse, was die Zunge des Raben spricht. Der Diener habe gesagt, ohne daß er nun gewußt hätte, wo er das Verständnis der Vogelsprache herhabe: "Die Rabenzunge spricht so: wenn wir auf die Brücke gelangen, wird der Fuß unseres Pferdes brechen." So ging es auch. Als die Fahrer auf die Brücke kamen, brach das Pferd seinen Fußknochen. Als der Herr das sah, begriff er, daß sich der Diener die Klugheit erworben habe. Der Diener wollte wohl nicht gegen das Verbot des Herrn handeln, auch hatte er nicht einmal mit dem Fingernagel die Schlangenkrone berührt. Dennoch war die Stärke der Klugheit und die Macht in die Suppe hineingekocht, die der Diener gekostet hatte. So war das Glück demjenigen, der sich Mühe gegeben hatte, der auf Leben und Tod das Befehl seines Herren ohne Widerstand erfüllt hatte, zuteil geworden. Der Hauswirt wurde darüber unwillig, daß er nichts verstand und der Diener klug geworden war. Er entließ den Diener aus seinem Dienst.

Der Diener verstand von dieser Zeit an alle Sprachen der Vögel und wurde schließlich ein reicher Mann: er erfuhr aus der Sprache der Vögel viel Klugheit, und das machte den Mann berühmt und reich.