106. Der faule Junge bei der Nixe

In einem Dorf am Meeresstrand lebte einst ein Bauer. Er hatte einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hörte auf den Namen Jüri. Die Kinder hüteten im Sommer die Herde. Die Tochter war fleißig und flink, der Sohn Jüri war faul und ein Schelm, gab nicht auf die Herde acht, machte sich Flöten, trieb sich untätig herum und schlief, ließ das Vieh ins Getreide und bekam stets Schläge vom Vater. Da brachte ihn der Vater zu einem Fremden, für den er die Schweine hüten mußte. Die Schweine trieben sich nach Herzenslust herum, der Junge spielte die Flöte. Da gab ihm der Vater eine gute Tracht Prügel, worauf der Sohn an das Ufer des Meeres lief und ins Meer ging. Dort hat ihn eine Nixe auf die Schulter genommen und auf eine Insel im Meer gebracht. Nun war der Junge gerettet. Die Nixe hat gesagt: "Gib mir etwas für die Rettung!" Der Junge dagegen: "Ich habe nichts, was ich dir geben könnte." Die Nixe: "Gib dich selbst, nimm mich zur Frau!" Der Junge hat sich drei Tage Zeit zum Nachdenken erbeten. Die Nixe ging fort.

Der Junge war naß und hungrig, und es fror ihn. Was, Teufel, konnte er tun? Hat der Junge gedacht: "Hätte ich doch zugesagt, sie zu heiraten, nun muß ich sterben, o, ich armer, armer Narr!" Am nächsten Tag zur selben Zeit kam die Nixe und fragte: "Hast du schon darüber nachgedacht, ob du mich nimmst?" Der Junge erwiderte: "Sehr gern!"

Nun hat sich auf einmal alles verwandelt, ein großes Schloß stand da, darin gab es allerlei Stühle und Sofas, und der Junge saß auf einem Sofa. Die Diener zogen ihm die alten Kleider aus und legten schöne Kleider an. Der Fußboden war wunderschön und glatt, so daß der Junge gar nicht begriff, wie man darauf gehen sollte. Ein runder Tisch stand da und darauf allerlei Speisen und Getränke. Zwei sehr schöne Stühle waren an den Tisch herangerückt worden, darauf saßen nun die Nixe und der Junge. Auch andere Große haben am Tisch gesessen, doch eine Stufe niedriger. Es wurde regelrecht ein Hochzeitsfest gefeiert. Da hat die Nixe zu dem Mann gesagt: "Ich gehe jede Woche für einen Tag fort, forsche aber nicht nach meinem Verbleib! Tust du das, gerate ich in ewige Trauer, du aber mußt fort von hier!"

Jeden Donnerstag ging die Frau fort. Am Morgen ging sie fort und war am Abend wieder zurück. Der Mann dachte: "Wer weiß, was das für eine verdammte Geschichte ist? Vielleicht unterhält sie Freundschaft mit einem anderen?" Jedesmal ging sie in die Kammer, die Dienerinnen gingen auch mit, und die Tür wurde zugeschlossen. Der Mann spürte einen unbezwingbaren Drang zu sehen, was da los war. Da machte er mit einem Bohrer ein Loch in die Wand und schaute hindurch, als die Frau hineingegangen war. In der Mitte der Kammer stand eine Wanne, darin badeten die Mägde die Frau, sonst war nichts da.

Wie es Abend wurde, kam die Frau in schwarzer Trauerkleidung und sagte zu dem Mann: "Was hast du getan? Nun muß ich ewig trauern, du aber mußt gleich fort von hier, mach dich auf!" Der Mann hat gebeten, sie möge ihn doch wenigstens noch die Nacht schlafen lassen. Doch gab sie ihm keine Zeit mehr. Im Augenblick war alles verschwunden, und der Mann stand wieder am Meeresstrand, seine eigenen Hirtenkleider auf dem Leib. Nun hat er sehr gebeten, daß er doch nach Haus kommen möchte. Da kam die Frau, nahm ihn auf die Schulter, stieg an die Oberfläche, trug ihn übers Wasser aufs trockene Land und sagte: "Nun kann ich niemandem mehr Gutes tun."

Der Mann ging zurück ins Vaterhaus und sah: alle Gebäude waren neu aufgeführt, ein neuer Garten und alles verändert, im Haus lebte ein fremdes, unbekanntes Volk. Der Mann fragte nach Vater und Mutter, niemand hat etwas gewußt. Endlich haben sie in einem alten Kirchenbuch nachgeschlagen und gelesen, daß die Leute des Namens, den er genannt, schon vor dreihundert Jahren gestorben seien. Da starb auch der Mann selbst und wurde zu Asche.