105. Der Wunderspiegel der Nixe

Auf einem Gut lebte ein alter Graf mit seiner Frau. Kinder hatten sie keine, deshalb nahmen sie einen Pflegesohn auf, der Priidu hieß. Der Gutsherr hatte ein prächtiges Schloß mit hohem Turm. Am liebsten schaute der kleine Priidu ganze Tage unverwandt von dem Turm herunter auf den großen See. Oft ging er bei stürmischem Wetter hinunter an das Ufer des Sees und fand dort Sträuße von süßduftenden Blumen. In der Nähe des Sees auf einer alten Eiche war ein Storchennest. Von diesem Storch wußten die alten Leute so manches zu erzählen: daß er sich manchmal in einen Menschen verwandelt und wie ein Mensch geredet habe. Es hieß außerdem, in dem See gebe es eine schwimmende Insel, auf der ein schönes Inselmädchen lebe.

Eines Tages, als Priidu vom Turm herunterschaute, sah er auf dem See einen leeren Kahn vom Winde hin und her geworfen. Priidu ging eilends hinunter an das Ufer des Sees, machte seinen Kahn los und ruderte in die Richtung, in der er den leeren Kahn gesehen hatte. Bald kam er auch in die Nähe des fremden Kahns. Nun sah er erst, daß der Kahn gar nicht leer war, sondern eine schöne Frau darin schlief. Schon berührten sich die Kähne, da erwachte die Frau. Sie sprang eilends auf und lief zur Spitze des Kahns. Dort schien sie irgendetwas nehmen zu wollen, hielt aber plötzlich inne und wurde im Gesicht bleich wie der Schnee. Der gesuchte Gegenstand war nicht da. Sie war völlig ratlos.

Priidu versuchte ein Gespräch anzuknüpfen und zu reden, erhielt jedoch keinerlei Antwort. Priidu band ihren Kahn an seinen und brachte sie an den Strand. Die Frau ließ alles geschehen, wie es der Junge wollte. Er brachte die Frau auf das Schloß. So lebte sie dort einige Tage. Sie sprach nie ein Wort, wurde aber alle Tage bleicher. Eines Tages nahm Priidu sie mit auf den Turm. Die Frau winkte mit ihrem Taschentuch. Da kam der Storch angeflogen und fragte, was die gnädige Königin wünsche. "Bring ein Netz her!" Der Storch flog auf und kam bald mit einem Netz zurück. Die Frau nahm das Netz und eilte damit vom Turm hinunter. Priidu stürmte ihr nach, kam ihr aber nicht nahe. Die Frau lief hinunter an den See, löste ihren Kahn, und nun fing der Nachen an, schnell gegen den Wind zu segeln. Die Frau nickte wie zum Dank Priidu noch einmal zu und schwenkte ihr Taschentuch, bis sie Priidus Augen entschwand.

Priidu trauerte ihr sehr nach. Oft blickte er ganze Tage vom Strand unverwandt auf den See. Eines Tages ist er am Ufer des Sees eingeschlafen. Ein Schlag auf die Brust weckte ihn wieder auf. Er fand, daß eine kleine Schachtel auf seiner Brust lag. Er öffnete die Schachtel und sah, daß ein Spiegel darin war. Aus diesem Spiegel schaute die schöne Frau. Sie war wie lebendig und lächelte ihm entgegen. Dieses Schächtelchen hütete er nun mit großer Sorgfalt. Wenn er zuweilen betrübt war, schaute er in den Spiegel. Dann wurde er wieder froh.

Fremde Kaufleute zogen durch die Gegend und brachten die Pest auf das Gut. Das ganze Gutsvolk starb dahin, auch Priidus Pflegeeltern. Nur der kleine Priidu blieb allein übrig. Er war unterdessen zu einem Mann herangewachsen. Das Gut kam in fremde Hände, und schlimme Tage begannen nun für Priidu. Er schaute in den Spiegel. Auch die Frau war traurig, wahrscheinlich seinetwegen.

Eines Tages, als er wieder in den Spiegel schaute, war die Frau vergnügt und sprach zu Priidu: "Die Zeit ist nahe herangekommen!" Priidu schaute sich wie erschrocken um und sah den Gutsverwalter hinter sich stehen. "Junge, gib den Spiegel her, wo hast du ihn her?" fragte der Gutsverwalter. "Ich gebe ihn nicht, er ist mein!" sagte Priidu. Der Gutsverwalter wollte Gewalt anwenden, doch Priidu lief davon. Er lief an das Ufer des Sees, nahm seinen Kahn und fing an, den See entlang zu rudern. Endlich gelangte er auf eine Insel, wo ein betagter Fischer wohnte. Dieser nahm ihn freundlich auf. Sie legten Angeln aus und fingen Fische. Dann bereiteten sie sich aus den Fischen etwas zu essen. Dann sprach Priidu auch davon, wohin er nun wohl gehen wolle, wie es ihm zuvor im Leben gegangen sei und woher er den Spiegel habe. "Ja!" sagte der Fischer seufzend, "ich habe auch mehrere Male versucht, auf die Insel zu gelangen, doch es ist mir bis heute nicht gelungen. Vielleicht hast du mehr Glück. Du kannst es ja versuchen. Bald kommt die schwimmende Insel hier vorüber. Richte den Kahn und rudere ihr entgegen!" Danach haben sie eine schöne Stimme gehört, und bald ist die schwimmende Insel ihnen in Sicht gekommen. Priidu ruderte mit aller Kraft darauf zu, doch wurde es um der Insel erschreckend neblig. Es war kaum zu sehen, wie dort Blumensträuße aus einer Hand in die andere geworfen wurden. Ihn beachtete niemand, er blieb immer weiter und weiter zurück. Seine Hoffnung war schon ganz vergangen, als ihm der Spiegel einfiel. Er beschaute das Bild des Mädchens, und siehe, welch Wunder! als er nach der Insel schaute, war es um sie herum auf einmal klar. Die schöne Frau und noch zwei andere sah man in einem Kahn auf ihn zueilen, und bald hatten sie ihn erreicht. Das Inselmädchen nahm Priidu in ihren Kahn, und nun ruderten sie zu der Insel, wo Priidu nun für immer blieb. Er lebt vielleicht noch heute in großer Lust und Freude auf der Insel, in Gesellschaft der schönen Nixen.