104. Wie drei Männer ins Wasserreich gelangten

Am Ufer eines Sees auf einem großen Stein hat man einst ein liebliches Mädchen sitzen und singen gesehen. Das Lied ist so lockend und lieblich gewesen, daß es jeden Zuhörer wie mit Zaubermacht angelockt hat; es hat aber niemand gewagt, sich dem Mädchen zu nähern. Einst sind zwei Männer an dem See vorübergegangen, haben die Klänge des wunderbar lockenden Liedes gehört und sind nachsehen gegangen. Wie sie nähergekommen sind, haben sie ein schönes Mädchen auf dem Stein sitzen gesehen, eine goldene Harfe in der Hand. Als die Männer herangekommen sind, hat das Mädchen die goldene Harfe auf den Stein gelegt und ist im Wasser neben dem Stein verschwunden. Einer der Männer ist zum Stein gegangen und hat die Harfe vom Stein nehmen wollen. Aber während der Mann seine Hand nach der Harfe ausgestreckt hat, ist die schöne Nixe auf die Oberfläche gestiegen und hat den Mann mit ins Wasser gezogen. Der andere Mann aber lief, als er das gesehen hatte, davon.

Der Mann, den die Nixe unters Wasser gezogen hatte, hat sich am lieblichen Ufer eines Flusses wiedergefunden, zusammen mit der schönsten Nixe. Das Mädchen war unsäglich freundlich und vergnügt. Der Mann fand endlich den Mut zu fragen, wohin ihn das Mädchen führe. Die Nixe aber, als sie die Angst des Mannes spürte, antwortete: "Fürchte nichts, ich bringe dich an einen lieblichen Ort, wo meine und meiner Schwestern Heimat ist."

Dem Mann verging schließlich die Furcht und er ging mit der Nixe weiter. Nachdem sie eine Weile das blumengeschmückte Ufer des Flusses entlanggewandert waren, sah der Mann einen See vor sich und auf einer Insel im See ein schönes gläsernes Schloß. Alles war aus Glas, sogar die Schornsteine. Als sie ans Ufer des Sees gelangten, trat die Nixe auf den See und schritt wie auf festem Land vorwärts und hieß auch den Mann, ihr nachzuschreiten. Der Mann hat es anfangs nicht gewagt, als er aber endlich dem Mädchen folgte, war das Wasser des Sees hart und er schritt wie auf einem gläsernen Estrich einher. Als sie endlich auf der Insel angekommen waren, gingen sie auf das gläserne Schloß zu, doch, o Wunder, es war eine hohe gläserne Mauer um das Schloß herum. Auch die Tore waren von Glas. Beim Herantreten der Nixe an die Tore öffneten sich diese von selbst, und als sie hereingetreten waren, schlossen sie sich wieder von selbst hinter ihnen. So verhielten sich alle Türen im Schloß bei ihrem Erscheinen. Im Schloß sah der Mann, daß alle Gegenstände, was es auch immer war, aus purem Glas waren.

Endlich fragte der Mann, wo denn ihre Schwestern seien, zu denen sie ihn habe führen wollen. Die Nixe aber antwortete, sie seien zur Wache herausgegangen und würden bald zurück sein. Wie sie noch so sprachen, erhob sich auf einmal in der Mitte des Fußbodens im Schloß eine Falltür, und ein Mädchen, das ebenso schön war wie das erste, trat ein und hinter ihr stand ein junger Mann. Dem Mann folgte ein ebenso schönes Mädchen wie die zwei ersten, aber sehr sorgenvoll und traurigen Gesichtes. Am Abend, nachdem die Mädchen sehr schön Harfe gespielt hatten, blieben zwei Mädchen zu Hause, aber das dritte, das so traurigen Gesichtes gewesen war, ging wieder weg. Die Daheimgebliebenen haben nun den Männern allerlei gezeigt und versucht, ihnen die Zeit zu vertreiben. Am Morgen kam das dritte Mädchen wieder nach Hause, aber immer noch, wie vorher, traurigen Gesichtes.

Als das Mädchen am nächsten Abend wieder wegging, forderten die beiden daheimgebliebenen Mädchen die beiden Männer auf, mit ihnen auf der Insel spazierenzugehen. Als sie die Insel durchquerend bis an den See gekommen waren, blieben die Mädchen am Ufer des Sees stehen, und im Wasser des Sees, das wie Glas aussah, öffnete sich von selbst eine Falltür, durch die die beiden Mädchen eintraten. Sie baten, daß auch die Männer ihnen folgen würden. Die Männer traten durch die Falltür ein. Eine gläserne Treppe hinab führten sie die Männer immer tiefer, bis sie endlich auf dem Grund des Sees anlangten. Die Männer sahen, daß es dort sehr viel Gold und Edelsteine gab. Die Mädchen aber sagten, daß dies alles ihr eigen sei. Als die Männer diese Schätze und diesen Uberfluß gesehen hatten, brachten die Mädchen sie wieder über die gläserne Treppe auf die Insel. Als sie wieder im Schloß angelangt waren, war jenes dritte Mädchen unterdessen nach Hause gekommen und hatte einen Mann mitgebracht. Das Gesicht des Mädchens war nun sehr froh geworden.

Am nächsten Tag gingen die Nixen alle drei zusammen aus. Die Männer blieben nun zu dritt allein zu Hause. Als die Mädchen fortgegangen waren, fingen die Männer an, untereinander zu reden und einer den anderen auszufragen, wie sie dorthin gekommen seien. Der erste Mann hat seine Geschichte erzählt, wie wir sie schon kennen. Dann hat der zweite angefangen und gesagt: "Ich ging das Flußufer entlang, mich vor dem Abend mit meiner Liebsten unterhaltend, und ich sah eine sehr schöne Wasserblume auf der Wasseroberfläche in der Nähe des Ufers schwimmen. Ich streckte meine Hand vom Ufer nach der Blume aus. Als aber meine Hand in ihre Nähe kam, fühlte ich mich nach dem Fluß hingezogen und fiel samt der Blume ins Wasser. Als ich schon im Fluß war, sah ich, wie mich ein sehr schönes Mädchen an der Hand hielt, das mir freundlich lächelnd in die Augen blickte. Dann gingen wir beide einen gläsernen Weg entlang auf diese Insel und in dieses Schloß."

Der dritte erzählte, daß er baden gegangen war. Während er badete, fühlte er, wie irgendjemand ihn an der Hand faßte, und sah einen großen Krebs seine Hand festhalten, und schließlich sank er auf den Grund. Als er die Augen aufmachte, fand er sich ebenfalls neben einem wunderschönen Mädchen, das ihn sanft an der Hand hielt. Und dieses Mädchen hatte ihn ebenso den gläsernen Weg entlang bis in das Schloß geführt.

Die Mädchen kamen am Abend nach Hause. Sie waren sehr lustig und gingen nicht mehr fort. Das Leben der Männer mit den Nixen gestaltete sich endlich auch ganz freundlich, und die Männer dachten gar nicht mehr an ihre Heimat. Sie blieben im gläsernen Schloß bei den Nixen. Zuletzt nahmen sie alle drei ihre Nixen sich zur Frau. Später aber wurden sie von der Sehnsucht nach der Oberwelt erfaßt. Sie holten die Schätze vom Grund des Sees heraus und nahmen so viel mit, wie sie tragen konnten, und verließen das gläserne Schloß, um sich an die Oberwelt zu begeben. Als sie über den See gekommen waren, sahen sich die Männer noch einmal um. Was aber das Ufer gewesen war, war nun dem Erdboden gleich geworden. Die Männer siedelten sich nun mit den Nixen, die sie zu ihren Frauen gemacht hatten, auf der Oberwelt an. Sie lebten ein sehr glückliches Leben.