101. Der arme Jüngling heiratet die Sonnenschwester

In alter Zeit verdingte sich einmal ein Mann als Knecht in ein Dorf an einen Hauswirt. Er forderte einen Ochsen als Lohn dafür, daß er vom Georgstag bis zum Georgstag für ihn arbeiten würde. So war die Zeit auch bald um, und es wurde ihm sein Ochse gegeben. Als dann das ganze Volk mit den Pferden in die Kirche ging, ging er auch mit seinem Ochsen hin und fand auf dem Weg einen halben Rubel Geld. Für das Geld kaufte er in der Kirche Kerzen und stellte sie vor den Ikonen ("Göttern") zum Brennen auf. So wie dann die Leute aus der Kirche kamen, gingen sie zu den Pferden, und alle hatten auch ihre Pferde dabei, aber seinen Ochsen hatten wohl die Wölflein aufgefressen.

Was konnte der Mann nun tun? Es war ihm von seiner Arbeit nichts geblieben, was er gehabt hatte. Er konnte nichts anderes tun als sich wieder als Knecht zu verdingen, vom Nikolaustag bis zum Nikolaustag. Für diese Zeit verdingte er sich bei einem anderen Hauswirt und forderte sich ein Pferd zum Lohn. So war er da das ganze Jahr hindurch - es wurde wieder Nikolaustag. Und es wurde ihm auch wieder sein Pferd gegeben. Als dann das übrige Volk in die Kirche ging, ging auch er und fand auf dem Weg einen Rubel Geld. Den nahm er und kaufte in der Kirche dafür wiederum Kerzen und legte sie vor die Ikone (des Heiligen Nikolaus) zum Brennen. Aber als die Leute aus der Kirche herauskamen, gingen sie zu den Pferden; alle hatten ihre Pferde da, aber sein Pferd hatten wieder die Wölfe, diese Lumpen, aufgefressen. So blieb ihm auch von diesem Knecht-Sein nichts übrig.

Da sagte er: "Es lohnt sich für mich wohl nicht, als Knecht zu arbeiten, ich habe ja doch nichts bekommen!" So verbrachte er die Zeit bloß so dahin bis zur Roggenernte, wanderte durch die Dörfer und im Wald auch, fand auch im Wald manches Beerlein zu essen oder aus dem Dorf auch etwas zu erschnappen und in den Mund zu stecken. Aber als dann die Roggenschnittzeit kam, konnte er nicht mehr anders, als daß er auch hinging, für sich Arbeit zu erbitten. Er ging zu einem Hauswirt, der schichtete auf dem Feld Roggen in den Schober. Da sagte er zu ihm: "Gib auch mir irgendeine Arbeit, wenn auch nur fürs Essen!" Da sagte der Bauer: "Lege diese Roggengarben in den Schober! Wenn du die Hauptgarbe vor Sonnenuntergang in den Schober legen kannst, bekommst du am Abend zu essen. Aber wenn du es nicht vermagst, bekommst du nichts." Da begann er auch fleißig den Schober zu schichten, bekam den Schober auch schon fast fertig, nur die Hauptgarbe (d. h. die oberste) war noch nicht drauf. Aber da fing die Sonne schon an unterzugehen, und er bat die Sonne: "Goldene Sonne, gute Sonne, geh noch nicht unter ("zu den Göttern")! Hilf doch noch so lange, bis ich dem Schober die Hauptgarbe auflege, dann bekomme ich auch etwas zu essen." Aber die Sonne hörte nicht auf ihn, sie ging dennoch unter. Als der Hauswirt nachprüfen kam, sagte er: "Sieh, du hast die Arbeit nicht vollendet, wie ich befahl, jetzt bekommst du von mir nichts!"

Da ging der Mann, der Arme, fort und bekam nicht einmal zu essen. So ging er wieder nur so im Wald herum. Er ging und ging und kam an einen See. Da sah er, wie drei Enten zum Seeufer flogen, mit den Flügeln schlugen, und dann zu drei hübschen Mädchen wurden. Jene Lieben zogen die Kleider aus und gingen in den See baden. Aber er, der Liebe, schlich heimlich-leise die Büsche entlang zu den Kleidern und nahm einem der Mädchen die Kleider fort, versteckte sie wohl in einem Busch. Als dann die Mädchen vom Baden kamen, zogen die anderen ihre Kleider an, schüttelten sich und verwandelten sich wieder in Enten und flogen fort. Aber die Kleider der Allerjüngsten waren verschwunden. Da fing sie bekümmert an zu weinen: "Ich kann nirgends hingehen, was wird jetzt aus mir?" Da rief der Bursche aus dem Busch: " Deine Kleider sind zwar bei mir, aber ich gebe sie dir nicht wieder, bis du mir versprichst, meine Frau zu werden." Sie wollte es zunächst nicht versprechen, aber schließlich versprach sie es doch; sie konnte ja nicht anders. Da gab ihr der Mann ihre Kleider, und sie flog ihres Weges und wurde wieder zu einer Ente.

Da dachte der Mann bei sich: "Eitel Sorge, daß auch sie dahin ging! Ich selbst habe ja jetzt kein Leben und nichts zu essen, wo soll ich denn jetzt noch eine Frau unterbringen?" Als er sich jedoch schlafen legte und am anderen Morgen aufwachte, erkannte er den Ort nicht wieder, wo er war: er war in einem sehr schönen Zimmer, lag in einem Bett mit Flaumfedern, und eine junge hübsche Frau lag ihm zur Seite. Da wurde er frohen Mutes. Sie standen auf und begannen dort im Haus zu leben. Sie hatten von allem genug, es fehlte ihnen an nichts.

Aber als sie einige Zeit so gelebt hatten, begann der Mann sich zu sorgen: "Wir haben hier in unserem hübschen Haus gar keine Gäste! Es wäre gut, wenn jemand uns hier besuchen würde!" Da sagte die Frau: "Warum nicht, auch das kannst du haben. Gehe in die Königsstadt und lade, wenn keinen anderen, so den König zu uns zu Besuch mit den Worten: Hier wird man dich schon aufnehmen!" Auf diese Rede hin bekam der Mann Mut und ging auch eiligst und bat den König zu sich zu Besuch. Dieser widersetzte sich nicht und kam auch. Er wurde ordentlich aufgenommen. So ging er schon immer häufiger dorthin, und schließlich verliebte er sich in die Frau, weil sie sehr hübch war. Da fing er an nachzudenken, wie er wohl den Mann beiseite bringen könnte, um dann die Frau zu sich zu gewinnen.

Da sagte der König einmal: "Sieh, du mußt morgen zu mir kommen, aber weder mit einem Geschenk noch ohne ein Geschenk, und wenn du nicht so kommst, wie ich sage, wird es für dich nicht gut ausgehen!" Da sorgte sich der Mann sehr, was wohl aus der Sache werden solle. "Wie soll ich denn gehen?" Als die Frau das sah, fragte sie: "Was sorgst du dich?" Er erzählte ihr seine Not, und sie sagte: "Es ist unnütz, daß du dich darum sorgst! Ich werde es dir schon sagen: Gehe morgen und nimm einen lebendigen Birkhahn mit. Wenn du dann ans Königszimmer kommst, wird er dort am Fenster stehen, und das Fenster ist auf, dann reiche ihm den Birkhahn hinauf, aber wenn er sich schon zu neigen beginnt, dann laß den Birkhahn los! Dann wird er aus dem Fenster hinausfliegen, und der König hat dann auch nichts bekommen. Dann ist es so, daß er weder mit einem Geschenk noch ohne ist."

Da machte denn der Mann auch alles so und gab dem König den Birkhahn, ließ ihn aber los, da entflog dieser. Aber der König wurde sehr böse, daß der Mann ihn übertreffen konnte, und er fragte ihn: "Wer hat dich das gelehrt?" Er sagte aber: "Wer sonst als Gott und meine eigene Frau!" Da erboste sich der König noch mehr und sagte: "Sieh, morgen mußt du wieder zu mir kommen, aber komme weder auf dem Weg noch am Wegrand! Wenn du nicht so kommst, wie ich sage, darfst du mir nicht mehr in die Augen kommen!"

Da ging denn der Mann nach Haus und sagte zu seiner Frau: "Was jetzt? Wie soll ich nun morgen gehen, wenn ich weder auf dem Weg noch am Wegrand gehen darf?" Aber die Frau lachte und sagte: "Deswegen brauchst du dich nicht zu sorgen, damit werden wir schon fertig. Geh nur mitten auf dem Weg, dort wo weder das Wagenrad rollt noch der Pferdefuß hintritt, das ist so, daß es nicht der Wegrand ist, aber wenn du irgendwo anders gehst, einerlei wie weit, dann ist das ja der Wegrand."

Da tat der Mann denn auch nach ihrem Rat, aber als er zum König kam, und als dieser sah, daß er weder auf dem Weg noch am Wegrand kam, da konnte man ihm keine Schuld auflegen, noch ihm etwas antun. Der König erboste sich nur noch mehr und sagte; "Wer hat dich solche Klugheit gelehrt?" Aber der Mann sagte: "Wer sonst als Gott und meine eigene Frau!" Da knirschte der König mit den Zähnen: "Wart, wart, ich werde es dir schon zeigen!" Und sagte dann zu dem Mann: "Siehe, du mußt den Hut und die Waffen meines Großvaters finden, sonst schlage ich dir den Kopf ab!"

Da ging denn der Mann in Sorgen nach Haus und erzählte seiner Frau: "Sieh, jetzt bin ich in der Falle! Was soll nun werden? Der König will jetzt von mir die Dinge seines Großvaters haben, von welchem Teufel soll ich denn diese Sachen holen! Gott weiß, wo sie jetzt schon sind! Aber sieh, du triebst mich wohl dazu, den König zu uns zu Besuch zu laden. Aber als er kam, sieh, was war das für eine Plage mit ihm!" Aber die Frau sagte: "So groß ist die Not wohl nicht, wie du fürchtest. Wir werden auch damit schon fertig werden. Die Sachen wird man wohl sobald nicht finden, geh nun in die Welt hinaus, vielleicht triffst du irgendwo auf ihre Spuren. Ich sage dir zunächst den Weg, den du gehen mußt, und ich gebe dir auch Handtücher mit, die sind verziert, und wenn du dann irgendwo zur Nacht bleibst, wische dir mit nichts anderem als deinem Handtuch den Mund!"

Da ging der Mann auf die Wanderschaft. Er wanderte und wanderte bis zum Abend, da kam er zur Nacht in einen Ort. Als man ihn dort zum Essen einlud, fing er vor dem Essen an, sich die Hände zu waschen. Dann fiel es ihm ein: "Hol's der Teufel ("Blinde")! Ich will mich ja mit meinem Handtuch wischen!" Da zog er das Tuch heraus und fing an, sich damit zu wischen. Sobald die Hausfrau das sah, nahm sie ihm das Handtuch aus der Hand und sagte: "Wie ist das Handtuch meiner Schwester in deine Hände gekommen?" Da fing der Mann an zu erzählen: "Das ist von meiner Frau gewebt worden." Und er erzählte seine ganze Geschichte, wie er seine Frau gefunden hatte und auf was für einer Wanderschaft er war. Da sagte denn die Hausfrau: "Ich weiß auch nicht recht, wo diese Sachen sind, aber geh von hier aus den Weg entlang zu meiner ältesten Schwester, vielleicht weiß sie es."

So ging denn der Mann am Morgen wieder weiter und ging so lange, bis er am Abend wieder zu einem Häuschen kam, dort bat er um Nachtquartier. Als man ihn auch dort zum Essen rief, nahm er sein Handtuch heraus und ging zum Waschbecken, um sich vor dem Essen die Hände zu waschen. So trocknete er sich mit seinem Handtuch ab, aber als die Hausfrau das Tuch sah, nahm sie es ihm wiederum aus der Hand und fragte: "Wie ist das Handtuch meiner Schwester in deine Hände gekommen?" Da erzählte er denn wieder seine Geschichte und erkundigte sich: "Wo kann ich die Königswaffen finden?" Da sprach die ältere Schwester wieder: "Ich weiß es wohl, weiß es aber nicht genau. Aber gehe von hier weiter zu meiner Mutter, vielleicht weiß sie es besser!"

So ging er denn am nächsten Tag wieder weiter, bis er am Abend im Nachtquartier blieb. Dort wusch er sich wieder vor dem Essen die Hände und trocknete sich mit seinem Handtuch ab. Als die Hausfrau das Tuch sah, nahm sie es ihm wieder aus der Hand und erkannte es: "Es scheint ein Handtuch meiner Tochter zu sein. Wie ist es in deine Hände gekommen?" Da erzählte er denn auch, welche besondere Bewandtnis er damit habe und erkundigte sich: "Wo könnte ich des Königs Waffen finden?" Aber die Mutter sagte: "Warte nun hier so lange, bis mein Sohn nach Haus kommt, er ist jetzt beim Tragen der Sonne, er wird es wohl schon wissen."

So wartete er denn. Da kam auch schon der Sohn nach Haus. Die Mutter erzählte ihm die ganze Sache: "So und so ist es, mein Schwiegersohn ist hier, er sucht den Königshut und die Waffen, du wirst es wohl wissen?" Da sagte der Sohn: "Ich werde sie schon suchen, aber ich kann das nicht so schnell machen; bis dahin wird viel Zeit vergehen. So lange kann aber die Sonne nicht verborgen (=unsichtbar) bleiben. Also muß er hingehen und statt mir die Sonne tragen. Dann gehe ich diese Sachen suchen." Da sagte der Mann: "Ich würde ja schon gehen, wenn ich sie nur tragen könnte!" Aber die Sonne lehrte ihn: "Ich gebe dir meinen Stock in die Hand, damit wird die Sonne getragen, und meine Kleider ziehe ich dir auch an. Dann gehe nur meinen Spuren nach, wo ich schon gegangen bin. Wenn du dann an die allerhöchste Stelle kommst, ist Mittag, dann mußt du dich dort ausruhen. Dorthin bringen dir auch der Heilige Peter (=lapsus linguae pro: Georg) und der Heilige Nikolaus die Speise nach, so bekommst du auch zu essen.

Da ging er denn auf Wanderschaft und nahm die Sonne mit dem Stock auf den Rücken. Dann ging er immer fort, bis er zur Mittagszeit auf der allerhöchsten Stelle anlangte. Dort ruhte er sich aus, und es kamen auch der Heilige Georg und der Heilige Nikolaus mit Speisekörben zu ihm. Da fing er an zu essen und schlug sich das Bäuchlein voll. Dann sagte er: "Gott sei Dank, nun wurde ich satt!" Da legte er die Speise aus der Hand, nahm aber seinen Stock in die Hand und haute dem Georg und dem Nikolaus eine solche Ohrfeige herunter, daß die Spitze des Stocks zersprang. Ach du Himmel, wie die Lieben da heftig mit ihm zu streiten und zu zanken begannen: "Warum hast du uns geschlagen?" Aber er entgegnete: "Sieh, erinnerst du dich nicht daran, alter Georg, daß ich an deinem Tag mit meinem Ochsen in die Kirche ging und einen halben Rubel fand, aber doch noch für dich in der Kirche eine Kerze anzündete, das letzte Geld dir in Verwahr gab, du aber trotzdem deinen Hunden nicht verbotest, mein Öchslein aufzufressen, und mich als Fußgänger zurückließest?" Da sagte Georg: "Das ist richtig, ich bin wohl schuldig, und nun hast du recht, mich zu schlagen: sieh, ich war damals wohl nachlässig."

Da sagte er denn zu Nikolaus: "Du, altes Stück, hast ebensowenig auf mein Pferd aufgepaßt, als ich am Nikolaustag in die Kirche ging, auf dem Weg einen Rubel Geld fand und dafür eine Kerze kaufte und für dich anzündete. Du hast dennoch mein Pferd auffressen lassen!" Da sprach denn auch Nikolaus: "Das ist wohl richtig, ich bin schuldig, es war nötig, mich zu schlagen." So ging er denn wieder mit der Sonne auf die Wanderschaft und ging seinen Gang zu Ende. Er ging wieder nach Hause. Dort waren unterdessen der Königshut und die Waffen geholt worden. Man drückte ihm sie in die Hand. Er wollte fortgehen, aber die Sonne sah ihren Stock, sah, was geschehen war, und sagte: "Warum hast du, alter Halunke, meinen Stock verdorben, womit werde ich jetzt wandern gehen?" Aber er sagte: "Erinnerst du dich, du Kehricht, nicht mehr, daß ich dich einmal sehr bat, als ich den Roggenschober machte: Warte so lange, bis ich die Hauptgarbe auf den Schober hinauflege! Aber du hörtest nicht und gingst dennoch unter! Deswegen blieb ich ohne Lohn und bekam nichts!" Da sagte auch die Sonne: "Das ist wohl richtig, ja, ich bin schuldig, es wäre nötig gewesen, noch mehr Stücke vom Stock abzuschlagen. Ich kann dir keine Schuld geben."

So ging er denn mit den Königswaffen nach Haus und brachte sie dem König. Da konnte ihm denn der König auch nichts mehr tun, obwohl ihm das Herz wohl bis zum Grunde voll war: er hatte alle seine Befehle erfüllt, die er nur je gegeben hatte. Da mußte er auch den Mann und die Frau in Ruhe lassen, und dann fingen sie an, gut zu leben und lebten bis zu ihrem Lebensende.